Von Küchenbauern, Space-Shanties und Keuschheitsgürteln
Es gehört schon ein gut aufgepumptes Ego dazu, um nach einer verlorenen Wahl direkt einen hohen Posten in der Bundesregierung für sich einzufordern. Diese Dreistigkeit von Friedrich Merz wurde auf Twitter direkt mit einem kleinen Meme beantwortet, bei dem unterschiedliche User*innen sich für verschiedenste Posten anboten. Von Memes und Politik handeln auch wieder einige Abschnitte dieses Newsletters, aber in der vergangenen Woche habe ich noch weitere interessante Dinge in den sozialen Medien gefunden.
1.
In der letzten Woche bin ich zweimal auf 3D-Druck aufmerksam geworden. Auf TikTok hat der Sportler Jimmy Choi in einem Video gezeigt, wie schwierig es ist mit Parkinson eine einzelne Tablette aus der Pillenverpackung zu holen. Daraufhin hat ein anderer User ein 3D-Modell entworfen, das dieses Problem löst. Das Modell wurde bereits von zahlreichen Freiwilligen gedruckt und verbessert. (Mehr Infos in diesem Artikel)
Das Smithsonian stellt Online zahlreiche 3D-Modelle eigener Objekte zur Verfügung. Die Datenbank verwendet die Opensource-Lizensierung CCO, die Modelle können also verwendet und bearbeitet werden. Deswegen konnte ein User auf Twitter teilen, dass er jetzt sein Weed in einem interessanten Gefäß aufbewahrt.
2.
Mediale Sichtbarkeit durch polarisierenden Populismus und die Zirkulation von Memes war entscheidender Faktor in der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten. Der US-Wahlkampf von 2016 wird deswegen auch als “The Great Meme War” bezeichnet. (In der Sendung Breitband habe ich übrigens am Samstag zu den Memes der Capitol-Erstürmung ein Interview gegeben.)
“The significance and influence of memes (and more broadly internet culture) on the 2016 presidential campaign, dubbed “The Great Meme War” by online pro-Trump supporters on alt-right hubs such as 4chan’s /pol/ or Reddit’s r/The_Donald, is also to be linked to the notion of metapolitics, notably used by key alt-right figure Richard Spencer. Heavily inspired by Antonio Gramsci’s theory of cultural hegemony, and borrowed from the French Nouvelle Droite, the concept of metapolitics aims at spreading certain themes and ideas among the general public by focusing on cultural and ideological issues rather than on actual politics.” (Maxime Dafaure: The “Great Meme War:” the Alt-Right and its Multifarious Enemies)
In den Monaten vor der Wahl zum CDU-Vorsitzenden hat sich der Kandidat Friedrich Merz sehr deutlich dieser Strategie bedient, indem er immer wieder populistische Thesen geäußert oder Hundepfeifen-Politik betrieben hat und dadurch dann an Sichtbarkeit in den sozialen Netzwerken und weiteren Medien gewann. Im zweiten Wahlgang wurde am Samstag dennoch Armin Laschet zum CDU-Vorsitzenden gekürt. Laschet als jovialer Provinzpolitiker wird regelmäßig zur Quelle von Memes, beispielsweise mit seiner Aussage über NRW als Land der Küchenbauer. Norbert Röttgen hat versucht mit starken Vorortpapi-Vibes die sozialen Netzwerke zu bespielen und knüpfte dabei regelmäßig subtil an erfolgreiche Memes an, beispielsweise mit einem Bild von sich bei der Gartenarbeit, das ich hier analysiert habe.
3.
Über den viralen Erfolg von Sea Shanty TikTok habe ich bereits im letzten Newsletter geschrieben. Interessant fand ich den von @UteWeber geäußerten Gedanken, dass Shanties traditionell Durchhaltelieder sind, vielleicht passend zu unserer aktuellen Situation. Auf Twitter wurde auch darauf aufmerksam gemacht, dass die Synchronizität des Singens in der sozialen Isolation der Pandemie entlastend wirkt. Mittlerweile ist der Trend auch in den etablierten Medien angekommen und es hat – wie oft bei extrem erfolgreichen Memes – eine Differenzierung eingesetzt, bei der sich Menschen auf unterschiedlichste Weise mit dem viralen Content auseinandersetzen. Es gab einen Tweet zu einer Spotify-Playlist mit Shanties, die man gut beim Sex hören kann, einen wundervollen Thread mit Überlegungen zu Shanties in Space, gemeinschaftlich gesungene weitere Shanties, den Wellerman-Song als politische Parodie, den Wellerman-Song als generierten Lip sync, eine Variante mit Kermit und hier eine TikTok-Variante des subversiven Shanty “Twiddles”, der fragt, ob vielleicht die Frauen im Hafen auch einen Mann auf jedem Schiff haben.
Virale gemeinschaftliche Kreativität gab es auf TikTok übrigens in den letzten Wochen auch bei dem Versuch den Film Ratatouille und die Serie Bridgerton als Musicals umzusetzen.
4.
Die Geschichte 270 aus der Sammlung Tausendundeine Nacht beginnt damit, dass Ali Baba eine Gruppe Räuber dabei beobachtet, wie sie mit einem Geheimspruch ("Sesam öffne dich") zu ihrem im Berg verborgenen Schatz gelangen. Etwas später holt er sich mit diesem Geheimnis Gold aus der Höhle. Sein reicher Bruder erfährt von ihm das Passwort, will sich ebenfalls Gold holen, vergisst aber in der Höhle den Spruch und wird von den Räubern erwischt. Die Geschichte geht noch weiter, aber das zentrale Motiv des durch einen geheimen Spruch verborgenen Schatzes wurde vielfach aufgegriffen und hat einen eigenen Volksmärchentyp inspiriert (AT 676).
Müsste man eine moderne Version dieses Märchens erzählen, könnte man sich von einer Geschichte inspirieren lassen, die in den letzten Tagen auf Twitter umherging. Ein Programmierer hat nur noch zwei Versuche übrig, um das Passwort zu erraten, hinter dem sich Bitcoins im Wert von 220 Millionen Dollar verbergen. Der Mann ist jedoch anscheinend wohlhabend, sodass er vermutlich auch ohne Zugriff auf das Geld zumindest ökonomisch betrachtet ein gutes Leben führen kann. Schwieriger ist wohl die Situation der Menschen, die sich einen passwortgeschützten Keuschheitsgürtel gekauft haben, der mit dem Internet verbunden ist und leider gehackt wurde. Die Opfer der Hacker können sich mit Bitcoins freikaufen, um die gesperrten Keuschheitsgürtel wieder zu öffnen.
5.
Der Twitter-Account der Woche verwandelt politische Ereignisse in Limericks. Ich würde mich über einen deutschsprachigen Account mit einem ähnlichen Profil in politischer Lyrik freuen. Falls ihr welche kennt, dann gebt mir gerne Bescheid.
Der virale Kafka-Tweet der Woche steht fest, inkl. eines guten Drukos zu Gregor Samsa im Homeoffice. Hier lässt jemand Twitter in seinem Avatarbild Pokemon spielen. Auf Amazon gibt es jetzt auch Antifa-Romance als eBook. (Über die Frage, wie sich politische Ereignisse in self-published Büchern und Fanfiction widerspiegeln, habe ich bereits hier geschrieben).
Tiervideos sind immer ein willkommener Gaumenreiniger, wenn man sich mal wieder zu lange dem Doomscrolling gewidmet hat. Bei diesem Video hier bin ich zu einer kleinen Glückspfütze zerflossen, also schaut es unbedingt. Mit Gedanken an sich umarmende Fell- und Federtiere wünsche ich euch eine gute Woche!
Herzlichen Dank an alle für eure freundlichen Rückmeldungen. Bei einigen ist der Newsletter wieder im Spamfilter hängen geblieben. Wenn ihr den Absender zu eurem Adressbuch hinzufügt, sollte das aufhören.
Wenn euch der Newsletter gefällt, freue ich mich natürlich sehr über Weiterempfehlungen. Mit diesem Link kann der Newsletter geteilt werden: Phoneurie. Wie immer findet ihr mich auf Twitter und auf Instagram.