Über gesperrte Accounts, Bohnenpapas und Seemannslieder
Das Jahr ist zwar erst wenige Tage jung, aber zumindest in Bezug auf die Pandemie ist alles beim Alten geblieben: Die Impfung macht Hoffnung und optimistische Stimmung, die dann mit Blick auf die rasant ansteigenden Fallzahlen schnell wieder ins Gegenteil umschwingt. Auch politisch geht es hoch her, beispielsweise mit dem versuchten Umsturz in Washington und der Besetzung des Capitols. Wer also auf eine Atempause im globalen Ereignisstrudel gehofft hatte, wurde in der ersten Woche des Jahres vermutlich enttäuscht. Wie immer bei politischen Großereignissen in den USA schwappt einiges an politischen Memes durch die Timeline und somit auch in diesen Newsletter, der dieses Mal ein wenig abstrakter und nachdenklicher ist, was die Mechanismen der sozialen Medien betrifft. (Keine Sorge, es kommen auch einige lustige Phänomene vor.)
1.
Die Erstürmung des Capitols hat auf Twitter einen sehr interessante Thread nach sich gezogen, in dem durch Zusammenarbeit verschiedener Accounts Personen identifiziert wurden, die an der Erstürmung des Capitols beteiligt und dabei besonders auffällig bewaffnet waren. Diese kollektive Recherche wurde anschließend von Ronan Farrow für den New Yorker weitergeführt. Die Stärke von sozialen Netzwerken ist es, dass durch die weite Vernetzung die einzelnen User*innen rasch an vielfältige Formen von Expert*innenwissen gelangen können.
Gleichzeitig zeigte sich aber auch, wie stark soziale Medien zu den Ausschreitungen beigetragen haben. In Folge wurden Donald Trumps Accounts weiträumig gesperrt, von Twitter über TikTok zu Spotify und Pinterest. Es lässt sich vermuten, dass die Sperraktionen der verschiedenen Plattformen auch mit der überraschenden Senatsmehrheit der Democrats nach den Wahlen in Georgia und einer daraus resultierenden Furcht vor möglicherweise anstehender Regulation der Mediengiganten zu tun hat.
2.
Konnte man in der letzten Woche online sein ohne auf Sea Shanty TikTok zu stoßen? Mir ist es auf jeden Fall ständig in die Timeline gespült worden. Am 27.12 hatte der Musiker @nthnevnss eine Aufname des Seemannsliedes “Wellerman” geteilt, die sehr viel angesehen wurde und zum Ausgangspunkt eines musikalischen Phänomens wurde. Mit dem Duet-Feature von TikTok können sich immer neue Musiker*innen zu der initialen Aufnahme hinzufügen, ein oft genutztes Feature, um gemeinsam Musik zu machen. Auf diese Weise können Lieder in vielfachen Versionen viral geteilt werden und genau das ist mit der Wellerman-Aufnahme passiert: Immer mehr Musiker*innen haben ihre Stimme zu dem Shanty hinzugefügt, es gibt sogar eine Aufnahme mit einer Violinenspur. Das Menschen an den unterschiedlichsten Orten der Welt gemeinsam in einer App Musik machen können, ist eines der schönsten Features von TikTok.
Der Wellerman Song ist übrigens schon Anfang Dezember sehr populär auf TikTok gewesen. Der Account @forwardspiral97 spielt regelmäßig in seinen Videos zu den Lyrics von Shanties passende Szenen, darunter auch immer wieder den Wellerman-Song.
3.
Am 6. Januar teilte der der Account @fasterthanlime einen Tweet mit einem Screenshot von GitHub mit einer Nachricht des Users fre5h vom 22. Januar 2014: “I will take a look later. Much much later. Because I’m Ukrainian and we have a revolution right now. Sorry” Vor dem Hintergrund eines politischen Umsturzes musste die Arbeit in der virtuellen Welt für den GitHub-Nutzer zurücktreten. Für einen lakonischen Hinweis auf die politischen Realitäten seier Offline-Welt nahm er sich jedoch noch die Zeit.
Politische Ereignisse beeinflussen Offline und Online, eine Trennung in zwei Welten, die sich gegenwärtig sowieso nur noch sehr bedingt aufrechterhalten lässt. Immer mehr berufliches und privates Leben findet auf digitalen Plattformen statt, und auch in dieser virtuellen Welt treten in Umbruchsituationen die politischen Ereignisse in den Vordergrund. Politischer Protest wird online wirksam und kann sich dort verstärken. Tobias Gralke schreibt in einem Artikel über den Statuensturz von Bristol und neue Protestformen: “Diese Wirkung [symbolischer Akte] wird verstärkt durch die Infrastruktur der Sozialen Netzwerke und die mit ihnen verbundene Möglichkeit Einzelner, an entfernten Protesten teilzuhaben, sie zu verbreiten und miteinander zu verknüpfen.”
Der Angriff auf das Capitol war nicht nur online vorbereitet, er wurde auch massiv von den Teilnehmenden online geteilt. Bilder, Memes und Selbstinszenierungen in den sozialen Medien spielten so eine entscheidende Rolle in der Bewertung der Ereignisse. Die initial aufgegriffenen Bilder von den Protestierenden im Capitol wirkten lächerlich und verharmlosend und boten viel Anlass für Memes: Trump-Anhänger*innen, die wie Touristen durch das Capitol wanderten und sich dabei an die Abgrenzungen hielten, ein QAnon-Anhänger mit Tierfellen und Hörnern und ein grinsender Mann, der das Redepult aus dem Capitol trug. Diese Bilder und Memes können zu einer Verharmlosung des Protests beitragen und den Blick auf die maskierten Männer in Kampfkleidung mit Kabelbindern und Galgen verstellen, die offensichtlich massive Gewalt ausüben wollten.
4.
Aus der Reihe “Abbildung von Wetterextremen in den Sozialen Medien”: In Madrid hat es sehr stark geschneit und von Menschen, die sich mit ihren Skis von Autos durch die Straßen lassen, zu interessanten Schneefahrzeugen, zu unter der Schneelast umfallenden Bäumen bis zu Massenschneeballschlachten war einiges auf Twitter zu sehen.
5.
Habt ihr schonmal versucht einer Person, die Twitter nicht verwendet, einen bestimmten Konflikt zu erklären, der auf der Plattform viral geteilt wurde? In dem Moment merkt man oft, dass plattformspezifische soziale Bezüge, Konfliktdynamiken und -anlässe das Gegenüber ratlos zurücklassen. Ähnlich geht es einem, wenn man eine Weile nicht auf Twitter war, dann zurückkommt und merkt, dass ständig ein bestimmtes Thema in Witzen und Anspielungen verwendet wird, man aber nicht weiß, worum es eigentlich geht. In der letzten Woche tauchten immer wieder Dosenöffner und Bohnen in Tweets auf. Ein Podcaster hatte in einem Thread detailliert erzählt, wie er seiner hungrigen Tochter einen Dosenöffner und eine Dose Bohnen gegeben hatte und ihr dann nicht beim Öffnen der Dose half, sondern sie mehrere Stunden und mit zunehmender Frustration mit dem Öffner experimentieren ließ. Der Thread erzeugte viel Wut und Ärger. Bohnenpapi, Dosenöffner und Bohnen kursierte danach durch zahlreiche Tweets und Memes, Kinder fragten ihre Eltern per Chat, ob sie ihnen erklären würden, wie man einen Dosenöffner benutzt, und teilten die Resultate. Andere gaben ihren Kindern kommentarlos Dose und Öffner und teilten das resultierende Video. Der Beandad hatte initial noch spöttisch auf die viele Kritik reagiert und die daraufhin noch wütenderen Nutzer*innen durchsuchten seine Tweets und fanden zahlreiche rassistische, antisemitische und sexistische Äußerungen, für die er zusätzlich kritisiert wurde. In einem langen Thread dachte Charlie Warzel (@cwarzel) anschließend mit einer leicht kulturpessimistischen Note darüber nach, was diese Twitter-Events bedeuten.
Ich vermute, dass die sozialen Dramen, die sich zu diesen objektiv betrachtet unwichtigen Ereignissen auf Twitter abspielen, immer auch einem kollektiven Normenabgleich dienen. Gleichzeitig sind sie aber auch Quelle für twitterimmanenten Humor, der die Plattform bestimmt und diese deswegen für Externe teilweise so unverständlich macht. Ryan Broderick schreibt in seinem Substack-Newsletter über dieses Phänomen (“The Main Characterfication of Twitter”), das er als Zeichen für das Ende einer digitalen Plattform betrachtet.
6.
Meine Twitteraccount-Empfehlung für diese Woche gibt Antwort auf eine entscheidende Frage, die sich mitten in einer Pandemie stellt: Wieviele Islands sind in Bezug auf die deutsche Gesamtbevölkerung schon geimpft worden?
Zum Abschied hier noch ein Tweet mit der Frage nach den besten Tiefkühlgerichten. Die darunter gesammelten Antworten mit Vorschlägen für gutes Tiefkühlessen werden vielleicht die ein oder andere Speisekarte im Lockdown bereichern. Außerdem habe ich für euch noch einen Link zu einem TikTok-Clip, der ziemlich perfekt darstellt, was es mit skandinavischen Krimiserien auf sich hat, einen Clip zu den Fallstricken von “sexy Roleplay” und falls ihr euch gefragt habt, wie es aussieht, wenn ein Detektiv aus dem 19. Jahrhundert sich einen Begriff für “Serienkiller” ausdenkt, dann gibt es in diesem Clip einen Antwortversuch. Und natürlich gab es auch wieder einen stark verbreiteten Kafka-Verweis auf Twitter, dieses Mal in Cartoon-Form. (Kafka und Twitter könnte wirklich ein wöchentliches Feature in diesem Neswletter werden.)
Ich wünsche euch einen erholsamen Sonntag und einen guten Wochenstart!
Wie immer geht auch in dieser Woche ein Dank an alle, die sich bei mir mit Hinweisen oder einer freundlichen Nachricht gemeldet, den Newsletter geherzt oder geteilt haben. Wenn der Newsletter im Spamfilter hängen geblieben ist, dann müsst ihr den Absender zu eurem Adressbuch hinzufügen.
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