Über Aerobic, angeschossene Professoren und virtuelle Tauchgänge
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Aktuell handelt es sich dabei um mein Vorhaben eine Art “Internet Grimoire” zu schreiben. Es geht um die Frage, wie sich magisches Denken mit dem virtuellen Raum verbindet, wie ein oberflächlich archaisches System wie die Zauberkunst sich neue Technologien zu Nutze macht: Emoji-Zaubersprüche, Twitter-Flüche, evil Captchas usw.
Diese Woche war – zumindest in meiner Timeline – mit Blick auf politische Memes eine eher ruhige Woche. Dafür gab es einen Schneebeginn in Teilen Deutschlands, der wie jedes Wetterphänomen zu viel geteilten Bildern und Tweets führte, aber nicht zu eigenen Memes oder besonders viralen Tweets. Deswegen kann ich für diesen Newsletter endlich einmal die Gelegenheit nutzen, um einige der Ideen aus meiner Sammlung zu verwenden.
1.
Im November 2020 habe ich einen meiner Newsletter mit einem damals viral geteilten Clip von einem Straßenmusiker in Barcelona angefangen, der “Eternal Flames” von den Bangles spielte, während hinter ihm eine Demonstration eskalierte. Wenige Monate später wird ein Videoclip von einer Aerobic-Trainerin in Myanmar geteilt, die eifrig weiter tanzt, obwohl hinter ihr Panzer für einen Putsch auffahren. Die Echtheit des Videos wurde eifrig diskutiert, einige behaupteten, dass die Aufnahme vor einem Greenscreen stattgefunden habe. Rasch wurden auch wieder Memes in dem Clip kombiniert (in diesem Beispiel Bernie Sanders, Ievan Polkka, Vibing Cat, Dancing Donald Trump).
Ganz unabhängig von der Frage nach der Echtheit des Videos und der memetischen Weiterverarbeitung ist in diesen kurzen Clips eine komprimierte Botschaft formuliert, die auf große Resonanz stößt. Auf den ersten Blick wirkt die Prämisse der Aufnahmen wie eine szenische Umsetzung der “Keep Calm and Carry On” Motivationsposter, die ab 1939 von der britischen Regierung verbreitet wurden und die für einen ruhigen Umgang mit der Krisensituation warben. Dieser Tenor könnte einen Teil der Resonanz dieser Clips in einer globalen Pandemie erklären. Motivierende Memes und virale Tweets, die nicht innerhalb der ästhetischen Kategorien “cute” oder “twee” operieren, haben jedoch fast immer auch die Möglichkeit ironisch oder als absurde Übersteigerung gelesen zu werden. Die visuelle Kombination von Influencer-Ästhetik und Militärputsch kann so auch ein Kommentar auf die Gegenwart von Social Media und enttäuschte Hoffnungen der Digitalisierung sein:
2.
Die Fernsehserie “Emily in Paris” folgt der Hauptfigur Emily, die für einen neuen Job nach Paris geschickt wird. Als Freundin gut gemachter Genre-Sendungen habe ich ein wenig hineingeschaut, war aber leider ziemlich abgeschreckt von der “Influencer in Paris meets Sex and the City”-Ästhetik und dem unangenehm klischeebeladenen Plot der ersten Folgen. Die Serie wurde jedoch in der vergangenen Woche überraschend für zwei Golden Globes nominiert, die Hauptdarstellerin Lily Collins als beste Schauspielerin und die Serie in der Kategorie für beste Komödien/Musicals. Im Gegensatz dazu wurde die Serie “I May Destroy You” von Michaela Coel vollständig ignoriert, eine Unglaublichkeit, die sogar von einer der Drehbuchschreibenden von “Emily in Paris” kritisch analysiert wurde und zu wütender Resonanz führte.
Die Komikerin Abby Govindan tweetete am 3. Februar: “as the creator of Emily in Paris can I just say.......why the fuck were we nominated for a Golden Globe LOL I made that show as a prank.” Ihr Tweet wurde viral geteilt, von vielen als Fakt gelesen und in mehreren Medienberichten als Tatsache zitiert. In den darauffolgenden Tagen veröffentlichte sie noch mehrere Tweets mit ähnlichem Tenor, die alle stark verbreitet wurden und vielfach nicht als satirisch erkannt wurden – vielleicht weil eine faktuale Lesart dieser Medienbetriebsironie tatsächlich gar nicht so abwegig erschien, angesichts der Ungerechtigkeit der Nominierungen. Ein weiterer Aspekt, der im Kontext der Golden Globe Nominierung aufkam, war die Frage, ob das ironische und sozialmedial begleitete Hate-Watching von Serien wie “Emily in Paris” die Probleme des Betriebs verschärft:
3.
Kollektives Erzählen auf Twitter ist nicht nur interessant, sondern bis jetzt auch sehr wenig erforscht. Ein Tweet geht viral und in den Replies wird die Geschichte des Ausgangstweets weitergesponnen. Ob der Inhalt des Ausgangstweets Fiktion oder Fakt ist, ist für diese Form kollektiver Schreibtätigkeit weitgehend egal bzw. nicht final zu bestimmen. In diesem Tweet wird beispielsweise der Screenshot einer eMail eines Professors geteilt, der einen Examenstermin verändern möchte, weil er angeschossen und mit Covid im Krankenhaus sei und außerdem eine chaotische Scheidung durchleben würde. In dieser Antwort auf den Tweet wird die Perspektive der Frau hinzugefügt:
In den Antworten auf den Tweet von “Patricks Frau” wird dann wahlweise ihr Verhalten diskutiert oder die Echtheit des Accounts hinterfragt. Eine typische mehrsträngige Erzählweise auf Twitter, in der oft einerseits auf einer Metaebene über die Echtheit des Erzählten diskutiert wird, die moralischen und ethischen Dimensionen der Geschichte reflektiert werden oder die Geschichte durch weitere Antworten und Verweise weitergesponnen wird.
Ein anderes gutes Beispiel für Tweets, die zu Schreibanlässen werden, ist dieser Tweet, in dem die Verfasserin darüber nachdenkt, dass ihr Ethik-Professor mit der Freundin seines Sohns geschlafen habe und diese nun schwanger sei. In den Replies finden sich wieder Tweets, die eigene Erlebnisse hinzufügen, Witze auf Basis des initialen Tweets machen oder ganz ernsthaft die ethischen Probleme der Situation diskutieren.
Sind diese Formen kollektiven mehrstimmigen Schreibens, das auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig abläuft, eine Variante von literarischem Erzählen der Gegenwart?
4.
Nicht nur virtuelle Arbeitstreffen, Lesungen, Konzerte, Kochkurse oder Parties sind seit Beginn der Pandemie Teil unseres Alltags geworden, sondern auch virtuelle Erkundungen der Welt. Aus dem Wohnzimmer heraus kann man im Livestream eine Tour durch südafrikanische Wildparks machen und dabei die Guides nach Herzenslust ausfragen, einen der vielen Nationalparks bei Google Arts And Cultures erkundigen oder auf einen virtuellen Tauchgang gehen. Wir können beim Sport in der Wohnung ein Video schauen, in dem jemand durch den Grand Canyon läuft oder eine halbe Stunde in Alaska umherwandern. Die Virtual Challenges von The Conqueror erlauben es sich für verschiedene Touren einzuschreiben und dann den eigenen absolvierten Sport einzutragen, um auf dem gewählten Weg voranzukommen. So kann man mit seinem Training in den vier Wänden den Inca Trail absolvieren oder den Mount Fuji besteigen und von den Zwischenstationen Reisepostkarten verschicken. Ich bin ehrlich gespannt auf die ersten Reiseberichte in Artikel- oder Buchform, die sich komplett auf virtuelle Reisen beziehen.
5.
Der Twitter-Account der Woche ist ein Lyrikbot. Kathrin Passig hat ein Gedicht der Autorin Elisa Aseva genommen und daraus den Asevador gebaut. Als ich gerade draufklickte, war er als neuer Bot noch wegen “ungewöhnlicher Aktivitäten” eingeschränkt, aber man kann sich daran vorbei zu den Gedichten klicken und das lohnt sich sehr. (Mehr Texte von Elisa Aseva könnt ihr hier in einem Beitrag von 54books lesen.)
Wenn man wie Merlin Sheldrake ein gutes Buch über Pilze schreibt, dann kann man später Pilze zwischen den Seiten züchten und die dann braten und live aufessen. Vielleicht ein gutes Beispiel für Buchmarketing im neuen Jahrtausend, auf der anderen Seite können wir jetzt natürlich nicht alle Bücher über Pilze schreiben.
In der letzten Woche habe ich gelernt, dass Regenbögen auch bei Vollmond entstehen können und wie der Wind auf dem Mars klingt. Außerdem gab es diesen Tweet mit der Frage, was der beste Tweet war. Mit den über 3000 Antworten kann man viel Zeit verbringen. Zum Abschluss verweise ich auf noch einen Clip aus der Reihe “Singende Familien im Lockdown”, einen Artikel über Spinat, der eMails verschickt und einen schreienden Handtuchspender.
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