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Über Bananenoperationen, Tanzkatzen und Tannenbäume
Nun steht der erste Dezember vor der Tür und damit die unzähligen Adventskalender, die zu dieser Zeit in den sozialen Medien mehr oder weniger erfolgreich durchgeführt werden. Wenn ihr einen solchen Adventskalender kennt, dem ihr besonders gerne folgt, dann gebt mir gerne einen Hinweis.
Ich freue mich immer so sehr über Schnee, deswegen sind mir die sinkenden Temperaturen gerade sehr willkommen, auch wenn der Schnee in den letzten Jahren immer weniger geworden ist. Über die Auswirkungen der Klimaveränderungen auf unser Erzählen habe ich einmal ausführlicher für das Kursbuch geschrieben (man kann den Text hier anhören). Zumindest kann man sich via Webcam einige schneebedeckte Orte anschauen. Ich empfehle den isländischen Gletschersee Jökulsárlón oder den See Tjörnin im Zentrum von Reykjavík – dort ist es aktuell mehrheitlich dunkel, also vielleicht die Tageslichtstunden abpassen. In Alaska kann man aus der Ferne den Schnee beobachten und in Manitoba live schauen, ob es Nordlicht gibt.
1.
Ist es ein Zeichen für effektiven Populismus, wenn man es regelmäßig schafft, dass eigene Zitate zu Memes werden? Wie Trump nimmt mittlerweile auch Merz mit seinen polarisierenden Aussagen erheblichen Medienraum ein und inspiriert in Folge auch immer wieder neue Memes. Dieses grundsätzliche Dilemma wird uns noch länger begleiten: Hilft man einem Populisten zum Erfolg, wenn man sich daran beteiligt, aus seinen Aussagen Memes werden zu lassen oder ist dies einfach eine aktuelle Variante subversiven Verlachhumors? Nachdem der Merz-Account am 21.11 einen Tweet mit einem Zeitungslink + eigenem Zitat geteilt hatte, entstand wieder ein neues Meme. Die Aussage: “Ich persönlich sage: Es geht den Staat nichts an, wie ich mit meiner Familie Weihnachten feiere. Da kann er mir Ratschläge geben, aber er mischt sich bitte nicht ein.” wurde mit unterschiedlichen Bildern kombiniert, von privaten Familienaufnahmen bis zu Filmstills. Zumindest war dieses Meme nicht direkt auf ihn zurückzuführen, weswegen sein Name nicht in den Twitter-Trends landete und seine Sichtbarkeit nicht erhöht wurde. Vielleicht ist das eine bessere Variante memetischen Spottes?
2.
Der Frankfurter Weihnachtsbaum hat nicht nur einen Namen (die Fichte heißt Bertl und kommt aus Österreich), sondern auch ein sehr lustiges Loch in seiner Mitte. Die zum Transport abgesägten Äste aus der Baummitte wurden wohl separat mitgeliefert, schreibt die FAZ (“Drama um Fichte ‘Bertl’”). Nicht nur passt der Baum somit perfekt zu diesem eigenwilligen Jahr, die Aufnahmen von dem Baum mit Lücke sind auch perfektes Bildmaterial, um im Internet rasch geteilt zu werden. Frankfurts struppiger Weihnachtsbaum kann zur Bildmetapher für einiges werden: das Jahr 2020, die Frankfurter Pandemie-Bewältigung, Lokalpolitik. Der Frankfurter Baum war jedoch nicht der einzige Baum, der für Spott im Internet sorgte. Auch über die Bäume in Cincinnati, New York, Wien wurde gelacht, während der Dortmunder Baum aus 1700 Einzelbäumen gar nicht erst aufgebaut wurde. Vielleicht suchen die von der Pandemie frustrierten Menschen nach Symbolen für das Jahr 2020 und dafür eigenen sich unförmige große Bäume auf zentralen innerstädtischen Plätzen, die eigentlich repräsentativ sein sollten, natürlich sehr gut. Der New Yorker Baum gewinnt den Wettstreit um den misslungensten Baum übrigens aus einem einfachen Grund: in seinen Zweigen saß eine kleine Eule, die mittlerweile wieder ausgewildert worden ist.
Im Vergleich zum “This is a Christmas Tree”-Meme von 2019 ist der Anlass der schiefen und lückenhaften Bäume von 2020 zumindest sympathischer. Ich schaue mir übrigens in jedem Dezember mindestens einmal dieses Video an – mein Weihnachtsbaum-Dinner for One.
3.
2018 stieß man plötzlich überall auf ein Meme, bei dem es um Operationen an einer Weintraube ging. In einem Video war die Präzision eines Operationsroboters gezeigt worden, indem eine Weintraube geschält wurde. Screenshots aus dem Video mit dem Satz “They did surgery on a grape” fanden sich bald überall und wurden in immer komplizierter verwickelte Memes eingebaut. In diesem November hat ein Londoner Chirurg via 5g eine kalifornische Banane operiert und diese Roboteroperation auf seinem erfolgreichen TikTok-Profil geteilt: “They did surgery on a banana.”
Früchte als Visualisierung für Körperteile finden sich aber nicht nur im Roboteroperationsbusiness, sondern auch im Bereich von Sexspielzeug. In diesem sehr langen Twitter-Thread teilt @Foone eine Expedition in die Angebote von Aliexpress und zeigt die vielen Früchte, die sich dort finden lassen.
4.
Der Moment am Ende eines Zoom-Videochats, bei dem die Teilnehmenden mit leicht hilflosem Gesichtsausdruck winkend den Chat beenden, hat für viele Online-Kommentare und Memes gesorgt. Mich hat am meisten überrascht, wie richtig sich dieses Winken anfühlt, obwohl ich es eigentlich auch merkwürdig finde meine Gespräche winkend zu beenden. Dieser Artikel hat versucht zumindest einige Antworten auf diese Frage zu geben:
"People are overperforming social cues of closure because X-ing out a window on your computer is so much more ambiguous than standing up, walking out of a room, or doing other signaling for in person terminations of meetings," said Melanie Brewster, associate professor of counseling psychology at Columbia University.” (Kaya Yurieff: Why we can't stop waving at the end of video calls. 23.6.2020)
5.
Selbst die spannendsten Dinge lassen sich langweilig beschreiben. Zumindest ist das die Prämisse des wiederkehrenden Onlinespiels “Beschreibe XY so langweilig wie möglich.” Die Dynamik des Spiels lebt von dem Paradox, dass die bemüht langweiligen Beschreibungen oft eine neue – dadurch wieder interessante – Perspektive auf beliebte Dinge ermöglichen. Außerdem macht es natürlich Freude zu raten, welche Filme, Bücher, Videospiele sich hinter den heruntergebrochenen und auf größtmögliche Langeweile abzielenden Beschreibungen verstecken. Bereits vor sechs Jahren erzeugte die Aufforderung einen Lieblingsfilm so langweilig wie möglich zu beschreiben bei Reddit große Resonanz. Es war vermutlich nicht das erste Mal, dass das Spiel initiiert wurde. Im Juli 2020 wurde die Frage dann auf Twitter wiederholt und der Tweet wurde zu einem viralen Ereignis. Tweets mit Varianten der Frage (nach Computerspielen, nach Büchern, nach Opern) habe ich auch in der vergangenen Woche gesehen, die Antworten sind ziemlich unterhaltsam.
6.
Manchmal erstaunt es mich, wie stark bestimmte Memes durch Raum und Zeit zirkulieren. Der finnische Komponist Eino Kettunen hat in den 1930 Jahren eine finnische Polka mit dem Namen “Ievan Polkka” komponiert, die von einer alten Melodie inspiriert war, über deren Herkunft man sich uneinig ist. 1995 hat dann das finnische Gesangsquartett Loituma eine Variante der Ievan Polkka aufgenommen, die den Soundtrack zu einem Flashvideo bildete, das seit 2006 massiv im Internet zirkulierte (Diese Website mit dem Flashvideo gibt es seit dieser Zeit). In dem kurzen Clip dreht das Loituma Girl / Leekspin einen Lauch in einer endlosen Schleife, während dazu ein Ausschnitt von Ievan Polkka spielt. Die Animation in dem Flashvideo basiert auf einem Ausschnitt aus der japanischen Animeserie Bleach. Die virale Ausbreitung des Videos wird in einem ausführlichen Beitrag bei Know Your Meme nachvollzogen, Ausgangspunkt war nach dortigen Angaben wohl ein russischer LiveJournal Nutzer.
In einem Video von 2018 spielt der türkische Straßenmusiker Bilal Göregen die Ievan Polkka nach. Im Oktober 2020 ging dieses Video auf Twitter in Kombination mit dem Vibing Cat Meme viral. Bei dem Vibing Cat Meme bewegt die weiße Katze Minette aus Kanada rhythmisch ihren Kopf zur Musik. Seit diesem Jahr wird diese wippende Katze vielen Videos hinzugefügt. In einem Video vom 19. November wurde dem Video von Bilal Göregen der Kopf von Joe Biden aufgesetzt, außerdem ist der tanzende Trump aus einem zuvor viral gegangenen Video und die Vibing Cat eingefügt. Typisch bei diesem Meme sind die vielen Layer und Neukombinationen, die Memes manchmal beinahe unverständlich werden lassen. Die Reise der Ievan Polkka umspannt nun also nicht nur einen sehr langen Zeitraum sondern auch den Globus.
8.
Der empfehlenswerte Twitter-Account für diese Woche ist @just_scanned, der Account des Digitalisierungszentrums der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek in Göttingen. Regelmäßig werden frisch digitalisierte Seiten alter Bücher veröffentlicht und immer wieder finden sich darunter die kuriosesten Dinge. (Die Website des Digitalisierungszentrums ist auch sehr zu empfehlen. Viel Spaß beim Stöbern!)
Zum Abschluss hier noch ein Link zu einem vielfach geteilten Videoclip, in dem ein Kaiserschnitt zu pädagogischen Zwecken mit Knete nachgespielt wird, was ich merkwürdigerweise unangenehmer fand als Originalaufnahmen von dem Operationsverfahren.
Herzlichen Dank an alle für eure freundlichen Rückmeldungen. Bei einigen ist der Newsletter wieder im Spamfilter hängen geblieben. Wenn ihr den Absender zu eurem Adressbuch hinzufügt, sollte das aufhören.
Wenn euch der Newsletter gefällt, freue ich mich natürlich sehr über Weiterempfehlungen. Mit diesem Link kann der Newsletter geteilt werden: Phoneurie. Wie immer findet ihr mich auf Twitter und auf Instagram. Habt eine gute Woche!