Über Miss Wahlen, Zeitlosigkeit und Roboterhände
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Ich habe das neue Jahr mit einer handfesten Erkältung eingeleitet und zum ersten Mal seit einer ganzen Weile Krankheitstage im Bett verbracht. Gelangweilt und verrotzt habe ich einige Stunden (vermutlich waren es viel mehr, aber ich traue mich nicht nachzuschauen) in TikTok verbracht und mich dabei darüber amüsiert, bewusst zu beobachten, wie der Algorithmus permanent versucht sich an meinen Geschmack anzupassen. Während mir der Algo regelmäßig Content präsentierte – Pimple Popper Ekel, Teenage-Partyquatsch, Incel-Six Pack-Core – den ich mehr oder weniger gelangweilt sofort wegwischte, fing er endlich an zu verstehen, was ich mir gerne und wiederholt anschaue. Das ist auch eigentlich gar nicht so schwierig, sondern die vermutlich ziemlich typische Mischung aus Recess Therapy-Style Videos mit lustigen Kids, Meme Songs, Tänzen aller Arten und lustigen Kochvideos. Ich stieß also – wie es ja immer auf TikTok ist – auf gute neue Accounts, wie beispielsweise den großartigen Pferde & Fun-Account des “Black Equesterian” Antonio Mcintosh und schaute mir mal wieder an, was die 92-jährige Grandma Droniak zu erzählen hatte (Slay Queen!).
Während der Algo mir meinen liebsten Mix mit immer mal wieder zufällig eingespielten Testballons präsentierte (pimple popper again wtf), merkte ich, dass ich mich in einer merkwürdig zeitlosen Blase befand. Der unendliche Loop auf der TikTok For You-Page ist schon immer überzeitlich, weil Datum und Uhrzeit der Videos keine große Rolle spielen, man bekommt das Datum beim Schauen auch nicht direkt angezeigt. Der Timeline-Algorithmus scheint diese Veröffentlichungszeitpunkt jedoch auch nachhaltig zu ignorieren, wenn es darum geht mit meinen nächsten Fix an lustigen Tänzen und witzigen Gesprächen zu geben. Während ich also krank herumlag, war in meinem Handy Sommer, Halloween, Thanks Giving und Weihnachten in kunterbunter Reihenfolge, als hätte ich mich von der realen Zeit abgelöst, was einerseits zum Zustand des Krankseins hervorragend passt, aber auch ein interessantes Phänomen ist: Die eigenwillige Raum- und Zeitlosigkeit von TikTok Clips.
1.
Open AI hat 2019 zwei neuronale Netzwerke darauf trainiert mit einer Roboterhand einen Rubik’s Würfel zu lösen, was an sich schon eine schöne Sache ist, weil die Kombination aus Rubik’s Würfel und Roboterhänden wie eine Art Visualisierung aus dem Unterbewusstsein einer Gruppe Nerds wirkt. Die Roboterhand arbeitet erwartungsgemäß erstaunlich gut, lässt sich nichtmal von einer Stofftiergiraffe von der Mission ablenken und hat deswegen schon bei Veröffentlichung der Resultate vor einiger Zeit für viel Gespräch in den sozialen Medien gesorgt.
Im Gegensatz zu den supergruseligen Kriegsmaschinen ähnelnden Robotern von Boston Dynamics, die nichteinmal harmlos wirken, wenn sie tanzen, kann man sich bei der superagilen Roboterhand von Open Ai viel positivere Einsatzszenarien vorstellen. Würdet ihr euch beispielsweise auf einem schwankenden Schiff von einer Roboterhand den Blinddarm herausnehmen lassen? Unter einem aktuellen Roboterhand-Tweet sammelten sich die Verweise auf Terminator – Es scheint, dass wir uns dem technischen Fortschritt mittlerweile nur noch durch Analogien zur Fiktion nähern können. Dabei ist die interessanteste Frage natürlich, wieviel Rechenpower und-zeit die Netzwerke brauchten, um die Bewegungen zu perfektionieren. Das kann man hier nachlesen und es ist mit mehreren Monaten Trainingszeit – wie zu erwarten – ziemlich lang. Es wird also wohl noch eine Weile dauern, bis die Roboterhand uns auf der Expedition an die gescholzenen Polkappen eine neue Herzklappe einsetzen kann.
2.
Ich hätte in diesem Newsletter auch über Prince Harry schreiben können, der mit seinem Buch “Spare” in den Timelines aktuell überall sichtbar ist. Ich bin aber kein großer Fan von Monarchie und von Heldengeschichten aus dem Krieg, deswegen will ich lieber über Miss-Wahlen schreiben, die sich ja auch immer ein wenig anfühlen wie Prinzessinenaufläufe.
Auf TikTok ist Ende Dezember ein Clip von der Miss Universe Wahl 2018 viral gegangen, bei dem die Teilnehmerinnen ihr Herkunftsland laut rufen, was Eva Colas aus Frankreich nicht besonders gut gelingt. (Der Clip wurde Anfang Januau auch auf Twitter zu viralem Content.) Der merkwürdige Schrei der Miss France sorgte für ziemlich viel Resonanz, am besten gefielen mir die Kombinationen mit anderen Memes: Wir haben jetzt beispielsweise auch eine Mumien-Meme Version mit dem Schrei von Miss France und es gab einige Verweise auf das schreiende Murmeltier-Meme, das ich besonders liebe. (Über das Mumien-Meme habe ich in diesem Newsletter geschrieben.)
4.
Menschen im Internet interessieren sich schon lange für vielerlei Varianten der Idee von “Six Degrees of Separation.” (Damit ist die These gemeint, dass wir alle über maximal sechs Schritte miteinander verbunden sind). Es ist auch naheliegend, dass besonders die sozialen Netzwerke dazu einlanden sich zu überlegen, wie eng wir miteinander verknüpft sind. Schon 2010 wurde untersucht, dass die meisten Accounts auf Twitter nur vier Schritte voneinander entfernt sind, der Weg zwischen zwei Wikipedia-Artikeln ist durch die Verlinkungen meist auch sehr kurz und es gab seit der Jahrtausendwende zahlreiche Websites auf denen man solche Abstände überprüfen konnte (mehr dazu findet sich hier).
Auf Twitter kann man dieses “Degrees of Separation”-Spiel herovrragend mit vier eingefügten Bildern spielen. So wurde beispielsweise kurz nach dem Tod der Queen eine Bildkette auf Twitter geteilt, die zeigt, wie gefährlich nah die Queen dem Inhalt von Jogi Löws Unterhose gekommen war. Im spanischsprachigen Twitter teilen User*innen gerade mit vier Bildern, wieviele persönliche Begegnungen sie von Adolf Hitler entfernt sind (Danke für den Hinweis nach Barcelona an @isi_peazy).
In eigener Sache:
Am 26. Januar lese ich in Bremen im Rahmen der 47. Literarischen Woche aus meinem Roman “Automaton”, vielleicht sehen wir uns dort?
Es ist immer besonders schön, wenn ausgeramschte Dinge, auf den Müll Geworfenes oder merkwürdige Antiquariats- und Flohmarktfunde in den sozialen Medien eine zweite Runde drehen, beispielsweise dieses Buch mit einem christlichen Ersatz für Yoga – Prayer Poses. Ich liebe diesen improvisierten Karaokesong “Party Hardy Har” im Stil von LMFAO und ihr solltet ihn auch anhören.
Mit diesem Thread und der Frage, was einen Kuchen ausmacht, wünsche ich euch einen schönen Sonntag. Ihr findet mich wie immer auf Twitter, Mastodon, Instagram oder TikTok. Für längere Gespräche über AI, Tech, Bücher und das Schreiben ingesamt bin ich meistens im 54books-Discord zu finden und freue mich euch da zu treffen.