Über leere Zeit, Hundeväter und Pedro Pascal
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Einige von euch haben vermutlich gemerkt, dass der letzte Newsletter ausgefallen ist. In meiner Familie gab es einen Trauerfall und ich musste für einige Zeit andere Dinge organisieren und ein bisschen auf mich selbst achten. Krisenzeiten sind jedoch zumindest interessant, was den eigenen Gebrauch von Medien betrifft. Für mich bedeutet das meistens, dass ich micht auf die Suche nach Wohlfühlinhalten oder – wenn es mich noch härter trifft – nach betäubenden Inhalten mache. Als ich im Januar einige Tage krank war, bin ich in meinem TikTok Feed versackt. Während der letzten Wochen war es mir aber selbst dort zu anstrengend. Ich habe mich also auf die Suche nach wirklichem “mindless content” begeben und bin nur an einem Ort wirklich fündig geworden: Insta Reels.
Insta Reels zeichen sich für mich aktuell dadurch aus, dass in meinem Feed quasi keine in irgendeiner Art und Weise inhaltlich zum Nachdenken anregende Clips erscheinen – bei anderen mag das anders sein. In meinem Feed sind aktuell überwiegend Kuchendekoration; dicke Schichten Farbe, die auf Leinwände geschmiert werden; ängstliche Menschen, die über Hängebrücken klettern oder Bungee jumpen, Wasserrutschen und eine große Bandbreite an Vorher/Nachher-Content. Nichts davon fordert mich, stattdessen kann ich all diese Videos mit einer Art halbleerem Blick anschauen, das mediale Äquivalent zu einem Blick in die Ferne. Während die Minuten beim Schauen der Reels verstreichen, merke ich nicht besonders viel, aber ich fühle mich danach meist nicht entspannter oder ausgeglichener, sondern eher so, als würde ich aus einer medialen Versenkung wieder auftauchen, die mich seltsam leer hinterlässt, “mindless” eben.
Ich denke schon seit einer Weile über das Phänomen “mindless content” nach, weil ich mich dafür interessiere, was genau passiert, wenn wir Medien überhaupt nicht wegen ihrer Inhalte konsumieren wollen, sondern weil sie ganz elementare eher emotionale Bedürfnisse befriedigen. Anders als beim “guilty pleasure” (man liest oder schaut Dinge, die allgemein abgwertet werden, diese Abwertung ist übrigens gar nicht so selten misogyn konnotiert) geht es bei der Stumpfsinnigkeit von “mindless content” nicht nur um die Lücke zwischen der gesellschaftlichen Bewertung von Inhalten und dem eigenen Bedürfnis, sondern auch um die bewusste Suche nach einer Unterhaltung, die gleichzeitig null kognitive Anforderungen an die Konsumierenden stellt und maximal berieselt. Aktuell erfüllen Insta Reels für mich dieses Bedürfnis am meisten.
Vor genau einem Jahr hat Anne Helen Petersen einen Newsletter mit dem Titel “The Rot of Candy Crush and The Rest of Wordle” geschrieben, der bei mir l,ange nachgehallt hat, weil er recht gut analysiert, warum wir uns in manchen Situationen zu Inhalten flüchten, die uns gleichzeitig betäuben aber auch mit Aversion erfüllen:
“Candy Crush is satisfying the way 94% Fat Free microwave popcorn is satisfying: you can’t stop eating it once you start but you never feel good and satiated afterwards. At this point, I know that the game’s (re)appearance in my life is usually a good sign that I’m feeling burnt out. In this case, I downloaded it in a haze of physical and mental exhaustion. But it’s stuck with me for a month, superseding my reading and all the other things I actually want to do. I play it every night and I hate it so much.”
Die durch Candy Crush bei Petersen ausgelösten Gefühle, entsprechen recht genau dem, was ich nach einer Stunde Insta Reels empfinde. Während bei Petersen Wordle als Gegenmodell und Alternative zu Candy Crush etabliert wird, suche ich noch nach einer Alternative.
1.
Im Januar 2021 machte der Musiker und Podcaster John Roderick zwei Fehler: Er erzählte in einem langen Thread auf Twitter davon, dass er seine Tochter sechs Stunden hungrig ausprobieren ließ, bevor sie ihre Dose Bohnen geöffnet bekam. Fehler eins war natürlich das Dosenöffnerexperiment mit seiner Tochter und Fehler zwei der selbtüberzeugte Twitter-Thread. Binnen kurzer Zeit standen die Timelines Kopf, der “Bean Dad" war geboren. Nachdem von der aufgeheizten Menge in seinen alten Twitterposts auch noch problematische Inhalte gefunden wurden, deaktivierte Roderick seinen Account und veröffentlichte auf seiner privaten Website eine Entschuldigung. Wenn wir heute über “Main Character” sprechen, also über Menschen, die für eine kurze Internetzeit viele Äußerungen in den sozialen Medien bestimmen und oft zu Memes werden, dann wird regelmäßig der “Bean Dad” als Beispiel genannt. (Ich habe in diesem Newsletter länger über das Phänomen geschrieben.)
Ich habe den Eindruck, dass in den Jahren nach Bean Dad medienkompetente Menschen zunehmend vorsichtiger geworden sind, was das Teilen von Inhalten betrifft, die Main Character Potential haben. Umso faszinierter war ich deswegen, als Deutschland in Form eines Hundevaters seinen eigenen Bean Dad bekam. In einem gelinde gesagt erstaunlichen Tweet wurde von dem The Pioneer-Chefredakteur Michael Bröcker ein Vertrag geteilt, mit dem er zukünftige Familienverhältnisse regeln wollte, wenn die Familie gegen seinen Wunsch einen Hund anschafft.
Offensichtlich ist der formulierte Vertrag mit elf Paragraphen überspitzt und lustig gemeint gewesen, die einzelnen Punkte, in denen der Familienvater sich sämtliche Freude an einem Haustier sichern will, bei garantierter Freiheit von Sorgearbeit und Verantwortung, verursachten jedoch – wenig überraschend – Unmut in den Timelines. Wenn also in zukünftigen Tweets auf Michael, Tina, Jannis, Ellen und den Hund angespielt wird, dann wisst ihr nun, dass es um den Tweet des deutschen Bean Dads geht.
2.
In der letzten Woche waren die Timelines voll mit einem Meme aus drei Bildern, in denen der Schauspieler Pedro Pascal als Joel in einer Folge von The Last of Us eine Panikattacke spielt. Typisch für ein supererfolgreiches Meme gab es auch viele Meta-Tweets, in denen die Allgegenwärtigkeit des Memes genervt angemerkt wurde.
In diesem Fall fand ich spannend, dass Meme und Meta-Kommentare beinahe zeitgleich abliefen. Immerhin kann man sich mit einem Meta-Tweet zu den überfüllten Timelines gut als medienkompetent markieren, an dem Meme und der Sichtbarkeit partizipieren ohne selbst mitzumachen – oder in diesem Fall noch besser: das Meme zum Kommentieren des Memes nutzen.
Der Meta-Cyle ist übrigens mittlerweile so schnell, dass es auch fast simultan schon Meta-Meta-Tweets gab – ich bin gespannt, wo das noch hinführen wird. Das Meme selbst ist übrigens ziemlich selbsterklärend und passt super zu den Winterausläufermonaten und der aktuellen globalen Stimmung.
In eigener Sache:
Meine Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung hat sich diese Mal um den supererfolgreichen Youtuber Mr. Beast und performative Wohltätigkeit gedreht.
Vermutlich gibt es wenig Schriftsteller*innen, die Quelle sovieler Memes sind wie Kafka. Gerade dreht er eine neue Runde auf TikTok. (Über Autor*innen als Memes und Memes als Kanonisierung habe ich einmal einen längeren Artikel geschrieben.)
Wie würdet ihr leben, wenn ihr reich wärt? Dazu haben anscheinend sehr viele ziemlich konkrete, mehr oder weniger ernste Vorstellungen. Hier kann man bei einem interessanten Ereignis mitbibbern – ich spoile noch nicht das Ergebnis.
Mit diesem sehr guten Deep Fake Minecraft Let’s Play Video (diese Wortaneinanderreihung hätte ich vor etwas mehr als einer Dekade nicht verstanden) wünsche ich euch einen schönen Sonntag. Ihr findet mich auf Twitter, Mastodon, Instagram oder TikTok. Für längere Gespräche über AI, Tech, Bücher und das Schreiben ingesamt bin ich aktuell häufig im 54books-Discord zu finden und freue mich euch da zu treffen.