Über ein Jahr mit Handschuhen, Containerschiffen und Keksen
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Dies ist der 55. Newsletter, seitdem ich im Oktober 2020 mit dem Schreiben angefangen habe. Am 1. Janar 2020 hatte dieser Newsletter noch 603 Subscriber*innen, mittlerweile wird er von 1712 Menschen abonniert und hat 45 zahlende Subscriber*innen, die meine Arbeit regelmäßig unterstützen.
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Herzlich willkommen im neuen Jahr!
Ausnahmsweise kommt diese eMail an einem Samstag, weil es so schön zum Beginn des Jahres passt, dass ich hiermit meinen Winterschlaf beende und wieder mit diesem Newsletter beginne (in der nächsten Woche kommt die eMail dann wieder regulär am Sonntag). Hoffentlich habt ihr euch während der Feiertage zumindest ein wenig erholen können, bevor dieses neue Jahr 2022 da anknüpft, wo das chaotische Jahr 2021 geendet hat.
Erinnert ihr euch noch an die vielen Memes zum letzten Jahreswechsel, in denen das erste Pandemiejahr 2020 erleichtert verabschiedet wurde? Die auf das neue Jahr projizierten Hoffnungen haben sich dann nicht eingelöst, wie es ja so oft der Fall ist. Trotzdem ist eine Datumsschwelle immer auch ein guter Moment für Rückblick und Ausblick und die sozialen Medien sind aktuell voll von unterschiedlichsten Varianten davon, weswegen es auch in diesem Newsletter unter anderem darum gehen wird.
1.
Es macht immer Spaß am Ende des Jahres in Listciles zu versinken – Best Off Dies und Best Off Das – und ich habe mich aus Interesse mal durch einige Internetphänomen-Rückblicke aus der Zeit vor der Pandemie geklickt , weil ich herausfinden wollte, ob sich rasch feststellen lassen ließe, wie sich Memes und Social Media durch die Pandemie verändert haben. Das war natürlich nicht der Fall, denn eine Antwort darauf, wie der Matsch sich zusammensetzt, ist schwierig, wenn man bis zur Nase drinsteckt. Vermutlich werden wir in zwanzig Jahren lange Texte darüber schreiben (auf unseren Isolierstationen im Weltraum).
Diesen Überblick über Internettrends in den 2010er Jahren aus dem Jahr 2019 fand ich ziemlich interessant (darin ist auch der mittlerweile legendäre Britney Spears Tweet enthalten), weil die Gegenwartsbeschreibung am Anfang nach nur 3 Jahren auch schon wieder historisch wirkt:
The internet of 2010 is a lot different than the internet of 2019. Facebook hadn’t been politicized. Twitter wasn’t Donald Trump’s playground. Instagram was brand new and nobody was calling themselves an “influencer.” (“The 100 best, worst, and weirdest things we saw on the internet in the 2010s” AV Club, 11.8.2019)
2.
Das Jahr 2021 war ein Jahr, in dem laut ARD/ZDF-Online Studie 100% der unter 50-Jährigen das Internet genutzt haben. Durch die pandemiebedingte Kontaktreduzierung und den damit zusammenhängenden Ausfall zahlreicher Veranstaltungen und Ausgehmöglichkeiten haben noch mehr Menschen als sonst einen gewichtigen Teil ihrer Zeit Online verbracht. Vielleicht sind deswegen auch soviele Memes in den Mainstream vorgedrungen? (Mit Boussa Thiam habe ich in der Sendung “Kompressor” im DLF Kultur ein wenig über das Jahr 2021 in Memes gesprochen – von Bernie Sanders bis zur Ever Given.)
In den Momenten, in denen ein Meme in den sozialen Medien omnipräsent ist und permanent geilt wird, ist der Gedanke daran, dass diese kommunikative Welle retrospektiv nur noch schwer zu greifen oder zu archivieren sein wird, meist ziemlich weit weg. Dabei sind viele Beiträge zu den jeweiligen Memes später gar nicht mehr in der Suche auffindbar, weil Beiträge in Bildform die aktuellen Möglichkeiten der Suche unterlaufen, der sprachliche Abstraktionsgrad einzelner Posts zu hoch ist, Memes kombiniert werden oder Beiträge zwischen den Plattformen hin- und herwandern. Kennzeichnend für wirklich erfolgreiche Memes – wie das Bernie Sanders-Meme oder die Memes um das feststeckende Containerschiff – ist, dass sie sich selten auf nur eine Plattform beschränken, es also keinen festen Ort gibt, an dem alle oder auch nur die meisten Memes entstehen.
Im vergangenen Jahr gab es zwar einige ausgesprochen plattformspezifische Trends, wie beispielsweise die vielen Formen von Meme-Musik auf TikTok, bei denen Menschen unter Einsatz der Duett-Funktion miteinander Musik machen, unter anderem bei dem Anfang des Jahres auf TikTok extrem populären gemeinsame Singen von Sea Shanties. Aber auch die daraus resultierenden Videos verließen rasch die Plattform, wurden auf Twitter oder als Insta Reels viral geteilt. Auf dem Messageboard Reddit nahm beispielsweise die kollektive Meme-Spekulation ihren Ausgang, die im März für große Sorge an der Börse sorgte, als es ausgehend vom Subreddit r/wallstreetbets zu einem Short Squeeze der GameStop Aktie kam, die tatsächlich einen Hedge Fonds in die Knie zwang, zentral für den viralen Erfolg und die Resonanz der Meme-Stocks waren aber auch Twitter und TikTok.
Wenn wir Memes mit zeitlichem Abstand analysieren wollen, sind wir darauf angewiesen zum Zeitpunkt des Geschehens archivarisch tätig zu werden, wie es der Account @LlamaInaTux getan hat und in einem längeren Thread die zentralen Trends des Jahres 2021 teilt, was dann ungefähr so klingt:
January 2: Bean Dad () / January 8: Twitter bans Tr*mp / January 18: Armie Hammer is a cannibal / January 20: Bernie and his mitts at the inauguration (Quelle)
Individuell sehen diese Trends sicher für jede Einzelperson etwas unterschiedlich aus, aber es gibt doch immer wieder auch Memes, die so viel Resonanz erzeugen, dass sie vermutlich in fast jedem Feed auffindbar waren. Gleichzeitig sind die Phänomene so flüchtig, dass ich beim Lesen vergangener Newsletter oft denke “Oh stimmt, dieses Meme gab es auch noch.” (Hier ist noch ein weiterer guter Jahresüberblicksthread)
Wenn Memes also einerseits für einen kurzen Moment auf dem Zeitstrahl gefühlt unausweichlich sind, aber andererseits dauch dadurch gekennzeichnet sind, dass sie fast immer rasch verschwinden (und manchmal auch wieder aufgegriffen werden), ergibt es dann überhaupt Sinn einen Versuch zu machen diese flüchtigen Phänomene zu archivieren?
Nach über einem Jahr Phoneurie, bei dem ich immer wieder versucht habe Memes und Online-Phänomene der jeweiligen Woche zu beschreiben und allgemeinere Internettrends zu erforschen, denke ich, dass es am sinnvollsten ist die Memes nicht nur archivierend zu beschreiben, sondern simultan zu analysieren, was diese Kommunikationsform im konkreten Moment ausmacht und wie sich einzelne Ereignisse in größere Muster einfügen.
Aus Memes resultierendes kollektives Handeln hatte jenseits aller Spielerei und Kreativität, die Memes überhaupt erst so faszinierend machen, im vergangenen Jahr handfeste politische, kulturelle, soziale und ökonomische Auswirkungen und allein das ist Argument genug, sich auch in 2022 weiter mit damit zu beschäftigen (und unterhaltsam ist es sowieso).
3.
Wer für 2022 die frischesten und neusten Hot Takes sucht, wird beim “Disc Horse Bot” fündig werden, der einen bestimmten Stil von konfrontativem politischen Diskurs auf Twitter parodiert. In stündlichen Tweets wartet der Bot mit absurd übersteigerten Thesen und apodiktischen Generalisierungen auf, die sich perfekt für die Twitter-Kampfarena oder auch den neusten auf Clicks abzielenden Printkommentar eignen. Disco Horse Discourse – Enjoy!
(Warnung: Da der Bot seine Tweets zufällig zusammensetzt, sind auch immer manchmal Tweets dabei, die ernsthaft beleidigend oder verletzend gefunden werden können)
4.
Im Mai des vergangenen Jahres hatte ich zum “National Biscuit Day” bereits einmal in meinem Newsletter einen Thread über wunderschöne Kekse und weil die unvergleichliche Dr. Ella Hawkins gerade einen ganzen Thread mit ihren Kekskunstwerken des vergangenen Jahres geteilt hat, muss ich euch nochmal drauf hinweisen (schaut euch unbedingt auch die anderen Kunstwerke an, von Jane Austen bis zu mittelalterlichen Manuskripten).
5.
Erinner ihr euch noch, wie in den frühen Social Media Jahren immer wieder Posts die Runde machten, in denen angeblich Schulklassen oder einzelne Lehrer*innen darauf aufmerksam machen wollten, wie rasch sich Inhalte Online verbreiten. Mit einer Parodie auf dieses Phänomen wurde am 28.12 ein kleines Meme gestartet und lustigerweise erreichten viele Beiträge, die einfach nur Copy und Paste des initialen Tweets waren auch leicht über tausend Favs.
Solche Parodien funktionieren in Bezug auf die Reichweite besonders dann gut, wenn sie einerseits von Menschen, die den intendierten Humor erkennen, geteilt werden, aber auch von Leuten, die genuin helfen wollen – und das ist doch eigentlich ein schönes Phänomen.
Wenn ihr eine weitere Anekdote für das Alexa-Gruselkabinett sucht, dann werdet ihr in diesem Tweet fündig. Dieses sehr gutes Sportvideo wurde auf Twitter viral geteilt und es bestätigt meine Überzeugung, dass es für großartige Sportmomente gar keinen Profisport braucht. Hier findet sich ein langer Thread mit guten Nachrichten aus dem vergangenen Jahr, von Seepferdchen, die wieder in the Themse leben bis zu einer sehr seltenen Eule, die zum ersten Mal fotografiert wurde.
Fall ihr im neuen Jahr Online auf Komodowaran Anspielungen oder auf ein kontextloses “Sank You” stoßt, dann schaut nochmal schnell hier nach, denn aus diesem sehr lustigen TikTok-Video sind jetzt schon einige Memes resultiert.
Wenn euch dieser Newsletter gefällt oder ihr Menschen kennt, die sich ebenfalls über eine in Zukunft wieder regelmäßige Sonntags-eMail freuen würden, dann bin ich euch für Weiterempfehlungen sehr dankbar. In den nächsten Wochen werde ich auch am Ende meines Newsletetters in schamloser Eigenwerbung darauf aufmerksam machen, dass Ende Februar mein zweiter Roman “Automaton” im Berlin Verlag erscheint. Für die Zeit bis zum nächsten Newsletter findet ihr mich auf Twitter und auf Instagram.