Über Bergseen, Nasenabstriche und rote Rosen
Dies ist die 56. Ausgabe dieses Newsletters, seitdem ich im Oktober 2020 mit dem Schreiben begonnen habe. Phoneurie wird jeden Sonntag mehrere tausend Mal geöffnet und mittlerweile von 1718 Menschen abonniert. 46 zahlende Subscriber*innen unterstützen meine Arbeit regelmäßig. Alle Leser*innen, die meine weitere Arbeit an diesem Newsletter ermöglichen wollen und können, haben hier die Möglichkeit zahlende Subscriber*innen zu werden:
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Ich mag diese erste Woche eines Jahres, in der langsam alles wieder anläuft, aber man immer noch merkt, dass manche weiterhin in den Ferien sind oder ihren Kater ausschlafen und deswegen die Grundstimmung insgesamt etwas langsamer ist.
Im Gegensatz zu dieser gefühlten Langsamkeit verbreitet sich in Island Omikron rasant und auch in den sozialen Medien nimmt der Virus weiterhin sehr viel Raum ein. In diesem Newsletter geht es deswegen um Covid-Memes, aber auch um eine Youtube-Nische, in der ich in der letzten Woche bei der Arbeit versackt bin. Außerdem wollte ich etwas zum Web3-Craze schreiben, der von Cryptoleuten seit Wochen rauf und runter in der Timeline befeuert wird, aber das spare ich mir wohl eher für einen späteren Newsletter auf.
1.
Der Youtube-Algorithmus führt einen manchmal, wie ein etwas verkorkster Reiseleiter, an merkwürdige Orte. Mir passiert das besonders oft, wenn ich zum Arbeiten Musikvideos anmache, nur mit einem halben Ohr bewusst zuhöre und nach einer ganzen Weile plötzlich realisiere bei welcher Musik ich angekommen bin. So startete ich diese Woche in irgendeinem Lo-Fi 80s Mix (über meine Lo-Fi Liebe schrieb ich bereits in diesem Newsletter) und landete bei Drill-Remixes von klassischer Musik, die ich euch hiermit von Herzen empfehle.
Drill Remixe sind auf Youtube ein eigenes ziemlich beliebtes Feld, bei denen oft populäre und weit von der Drill-Ästhetik entfernte Songs mit einem Drill-Beat geremixed werden. Mehr über die umstrittene Ästhetike der Trap-Variante “Drill” kann man hier erfahren. Einen guten Beitrag zu der aufgeheizten Moraldiskussion in den UK, wo Drill-Musik mit Gang-Gewalt in Verbindung gebracht wird, gab es schon 2019 im Guardian.
Die aktuelle Beliebtheit von Drill-Remixes auf Youtube hat sicher auch mit dem Humor zu tun, der aus der Konfrontation von Klassik, Pop, Weihnachtsliedern usw. mit der gritty Ästhetik von Drill entsteht. Im vergangenen Jahr gab es zahlreiche millionenfach geklickt Drill-Remixes klassischer Musik, vor allem von Mozart und Beethoven aber auch von zahlreichen anderen Komponisten, bei denen man sich auf keinen Fall die Kommentare entgehen lassen sollte, in denen ironisch der “Battle” zwischen Beethoven und Mozart kommentiert wird. Beethoven ist eh beliebt für Remixes mit modernen Musikrichtungen, beispielsweise in dieser schon älteren und über 60 Millionen mal geklickten Dubstep-Version von “Für Elise.”
2.
Das Jahr ist nun schon mehr als eine Woche alt und wie oft hattet ihr in diesen wenigen Tagen schon einen Tupfer in der Nase stecken? In Island wird sehr wenig selbst getestet, da nur offizielle Testzertifikate gültig sind. Kurz nach dem 1. Januar saß ich deswegen in einem Schnelltestzentrum, in dem immer fünf Menschen in einem Raum getestet wurden und bekam meinen ersten Abstrich im neuen Jahr, neben einer Gruppe französischer Touristinnen. Als wir einander danach mit diesen leicht tränigen Abstrichaugen anschauten, dachte ich darüber nach, dass der Nasenabstrich für mich das Bild der Pandemie noch mehr prägt als Gesichter mit Masken (was aber vielleicht auch daran liegt, dass ich die Abstrich-Prozedur generell ziemlich unangenehm finde.)
Auf meiner prokrastinierenden Suche nach Nasenabstrichmemes bin ich nicht nur auf unzählige Versionen gestoßen, deren Ekelfaktor teilweise unermesslich ist, sondern auch auf zwei sehr interessante Paper zu Memes in der Pandemie.
In ihrem Paper “COVID-19 memes going viral: On the multiple multimodal voices behind face masks” untersucht Marta Dynel 9gag, Reddit, Imgur und Twitter nach Maskenmemes in den ersten vier Monaten des Jahres 2020. Dabei analysiert sie auch ein – vermutlich entscheidendes – Element von Pandemie-Memes, nämlich dass sich viele Memes von unterschiedlichen Seiten des Meinungsspektrums einsetzen lassen:
“As the analysis of a few items has borne out, what appears to be parodic voices or spoofs may be mistaken for, and (re)posted as, sincere voices (and, potentially, vice versa: sincere acts could be deemed parodies).” (Marta Dynel: COVID-19 memes going viral: On the multiple multimodal voices behind face masks, November 2020)
Noch spannender war für mich als eher ängstlicher Person aber ein Paper, in dem untersucht wurde, wie Pandemie-Memes besonders für Menschen mit deutlich stärkeren Angstgefühlen als Bewältigungs- und Beruhigungsstrategie funktionieren:
“With the exception of valance and offensiveness ratings, groups differed in their interpretation of memes related to Covid-19. More specifically, the perception of humour, relatability and shareability were all greater amongst individuals with symptoms of anxiety relative to non-anxious controls.” (Internet memes related to the COVID-19 pandemic as a potential coping mechanism for anxiety, November 2021)
Wenn euch Sorgen- und Angstgefühle im Rahmen der Pandemie zu schaffen machen, dann solltet ihr vielleicht nicht durch Zeitungsartikel doomscrollen, sondern einfach Pandemie-Memes anschauen.
3.
Ein neuer Band zu Gelegenheitslyrik in der Moderne ist gerade erschienen und hat mich zu der Frage inspiriert, was eigentlich Gelegenheitslyrik in den sozialen Medien sein kann und dann stieß ich kurz darauf auf diesen Tweet:
Und mir fiel auf, dass diese unzähligen “Roses are Red”-Tweets mit Bildern oder Überschriften-Screenshots vielleicht das literarische Meme-Genre sind, das Gelegenheitsdichtung am nächsten kommt. In dem Band zur Gelegenheitsdichtung steht:
"Folgt man der systematischen Definition Wulf Segebrechts, so handelt es sich bei Gelegenheitslyrik um ein „auf ein bestimmtes Ereignis geschriebenes oder aus einer bestimmten Veranlassung heraus entstandenes Gedicht“. Erweitern lässt sich diese Definition um den Aspekt des Auftrags, denn die entsprechenden Texte werden, wie Stefanie Stockhorst feststellt, „zumeist auf Bestellung oder aus Verpflichtung“ geschrieben."
Einen Auftrag gibt es bei den “Roses Are Red…”-Tweets wohl eher nicht, zumindest nicht in der Dringlichkeit eines abendlichen Familientelefonanrufs, dass man noch unbedingt einen Vierzeiler für Opis 75. Geburtstag aus der Hüfte schießen soll. Nun kann man jedoch diskutieren, ob der soziale Druck sich an Memes zu beteiligen schon als Auftrag gilt?! Eigentlich interessant ist aber das Merkmal eines “aus einer bestimmten Veranlassung heraus” geschriebenen Gedichts.
Die Tweets, die oft auf Screenshots oder Überschriften reagieren, nehmen interessante Fundstücke aus anderen Texten als Anlass, um dazu einen konventionalisierten Vers zu schreiben, der sprachlich auf das Fundstück hinführt. Man kann das sicherlich ohne größere Verrenkungen als Gegenheits-Meme-Lyrik bezeichnen.
4.
Es gab in der letzten Woche ein kleines Politik-Meme, als Merz und Söder Bilder von sich in Bayern veröffentlichten, um die politische Geschlossenheit der Opposition zu demonstrieren. Mein Favorit war dieser Tweet, aus dem sich vermutlich einige sehr interessante Aussagen zur Ästhetik von Machtinszenierungen in den Bergen ableiten ließen:
Hier gibt es ein sehr gutes Gif mit einem kurzen Supercut aus Szenen, in denen in Stummfilmen das Telefonieren dargestellt wurde. Wo wir gerade bei alten Filmen sind: diese Aneinanderreihung von Filmszenen, in denen Olivia de Havilland einen Fehler begeht und fluchend aus der Rolle fällt, ist auch großartig.
Katzen und Puppenhäuser – was will man eigentlich mehr? Vielleicht einen Thread voller lustiger ausgedachte Thomas Mann Figurennamen! Zum Abschluss gibt es hier noch einen Tweet, der ein Vorschlag für ein extrem teures Bibo-Cosplay macht:
Wenn euch dieser Newsletter gefällt oder ihr Menschen kennt, die sich ebenfalls über eine in Zukunft wieder regelmäßige Sonntags-eMail freuen würden, dann bin ich euch wie immer für Weiterempfehlungen sehr dankbar.
In den nächsten Wochen werde ich am Ende dieses Newsletetters weiterhin in schamloser Eigenwerbung darauf aufmerksam machen, dass Ende Februar mein zweiter Roman “Automaton” im Berlin Verlag erscheint. Für die Zeit bis zum nächsten Newsletter findet ihr mich auf Twitter und auf Instagram.