Über Wackelaugen, Erinnerung und attraktiven Blumenkohl
Gefällt euch Phoneurie? Für alle, die meine Arbeit an diesem Newsletter ermöglichen wollen und können, habe ich eine Abonnier-Möglichkeit hinzugefügt. Dies ist der 44. Newsletter, seitdem ich im Oktober 2020 mit dem Schreiben angefangen habe. Er wird aktuell von 1366 Menschen abonniert und hat 38 Subscriber*innen, die meine Arbeit regelmäßig unterstützen.
Ihr könnt mir natürlich auch gerne via Paypal ein warmes Käsebrot spendieren, wenn euch dieser Newsletter eine Freude macht.
Der Terroranschlag vom 11.9.2001 jährt sich in diesem Jahr zum zwanzigsten Mal und dementsprechend war meine Timeline voll mit Tweets zum Thema. Viele der Tweets kreisten darum, wie die Menschen persönlich den Tag wahrgenommen haben, wo sie waren, was sie taten, als sie die ersten Bilder sahen – die Vergangenheit filtert sich in diesen Tweets durch die Perspektiven der Gegenwart. Für mich waren besonders die Tweets interessant und berührend, die den zeitlichen Verlauf zwischen Ereignis und Erinnerung mit reflektiert haben, nicht nur die Frage danach stellen, wer wir waren, sondern auch, wer wir nun geworden sind.
Darüber hinaus gab es über die medienhistorische Dimension des 11. Septembers einige interessante Beiträge, besonders gut fand ich diesen Artikel zur Frage, inwieweit das Ende von Flash die Rezeption historischer Medienbeiträge betrifft.
1.
Müsste ich eine Liste von Elementen machen, die sich häufig in erfolgreichem Social Media Content finden, dann würden Wackelaugen vermutlich ziemlich weit oben arrangieren. Ich habe irgendwann mal angefangen Links zu Wackelaugen-Content zu sammeln, aber die Datei nicht vernünftig benannt und jetzt ist sie irgendwo in meinen Docs verloren gegangen (in Zukunft mache ich das natürlich anders, zumindest nehme ich mir das jetzt vor, aber dann…). Dass ich die meisten Links verloren habe, ist aber gar nicht so schlimm, weil vermutlich die Meisten schon auf Wackelaugen-Content in den sozialen Medien gestoßen sind.
Das Bild über diesem Abschnitt kommt beispielsweise aus einem Tik-Tok-Video, auf das ich durch einen Tweet gestoßen bin. Es gibt auch dieses schreckliche GIF eines mit Wackelaugen beklebten Gesichts, das besonders für Menschen mit Trypophobie ziemlich unangenehm ist. Man stößt häufig auf Bilder, in denen Alltagsgegenstände, Plakate oder Fotos mit Wackelaugen dekoriert werden, es gibt alte Wackelaugen-Vines und Listicles mit besonders lustigen Wackelaugenbildern.
Im öffentlichen Raum Gegenstände mit Wackelaugen zu dekorieren, wird übrigens als “Eye-Bombing” bezeichnet. Die Aktivität scheint nicht nur ein populärer Zeitvertreib in der Offline-Welt zu sein, sondern Bilder des Eye-Bombings verbreiten sich auch Online erfolgreich weiter. Es gibt beispielsweise einen Subreddit mit beinahe 60.000 Mitgliedern, in dem sehr eifrig Eyebombing-Bilder geteilt werden.
Vor einer Weile habe ich scherzhaft auf Twitter gefragt, ob der große Wackelaugen-Essay schon geschrieben wurde, weil man am Beispiel der Wackelaugen über zahlreiche Themen von Verfremdungseffekt, Subversion, Kulturindustrie bis zur Humortheorie nachdenken könnte. In den Antworten auf den Tweet wurde ich darauf hingewiesen, dass Wackelaugen – auch wenn die Aktivität bereits sehr viel älter ist – schon einmal um 2010 einen Online-Trend verursacht hatten. Außerdem wurde ein Artikel verlinkt, der versucht die Bgeisterung für Wackelaugen wissenschaftlich zu greifen:
It follows that googly eyes—no matter how cartoonish—generate so much activation in our face-detection circuits that the ingenious addition of a few cracks and splotches (on a lamppost, say, or on a brick wall) suffices to complete our perceptual experience of an expressive face. (“Eyebomb Your Brain – How googly eyes hack your visual circuits” in: Scientific American, Mai 2020)
2.
In der letzten Woche hat es ein norddeutscher SPD-Politiker, der Hamburger Innensenator Andy Grote, mit seinem Pimmel-Gate bis in die Washington Post geschafft. Nachdem aufgrund eines Tweets, in dem Grote als “1 Pimmel” bezeichnet wurde, eine frühmorgendliche Hausdurchsuchung erfolgte, die in einem Tweet beschrieben wurde, gab es auf Twitter einen ausgesprochenen Streisand-Effekt.
Unter den Tweets des Politikers kann man seitdem beobachten, wie unzähliger User*innen vielfältige Variationen erfinden, um den Politiker als Pimmel zu bezeichnen oder auf das Pimmel-Gate hinzuweisen. Hinzu kommt außerdem eine große Medienresonanz, mit zahlreichen Beiträgen, die auf das Ereignis eingehen.
Ich glaube nicht an die These, dass das Internet und die sozialen Medien das Spielfeld, auf dem politische Konflikte ausgetragen werden, ausgeglichen oder fairer gemacht haben. Aber die Pimmel-Gate Geschichte ist zumindest ein Beleg dafür, dass sich das Spielfeld nachhaltig verändert hat und Politiker*innen manchmal nicht sehr gut darin sind, mit diesen Veränderungen umzugehen.
3.
Manchmal lernt man beim Scrollen durch die Timeline die Schönheit von Dingen wahrzunehmen, über die man nie zuvor nachgedacht hat (und dazu müssen sie nichtmal mit Wackelaugen beklebt werden). Durch einen Tweet wurde ich auf einen Subreddit aufmerksam, in dem Bilder von attraktiv aufgestapelten Lebensmitteln in Supermärkten geteilt werden. Besonderer Fokus liegt bei diesen Bildern auf den Obst- und Gemüseauslagen und es ist ästhetisch tatsächlich beeindruckend, wie perfekt sich beispielsweise Blumenkohl anordnen lässt.
4.
Der Account @anneke618 auf TikTok produziert vielgeteilte Droplift-Videos, das sind Clips, in denen sie selbst produzierte Waren in Ladenregalen ablegt. Ihre selbst gestalteten Produkte sind Parodie-Kopien von Deko-Gegenständen, die sie mit eigenen Slogans versieht. Der ganze Account ist sehr empfehlenswert, deswegen verlinke ich nicht auf ein spezielles Video.
In der letzten Woche fand ich diese babylonische Beschwerde über vertrocknenden Sesam sehr interessant. Gefreut habe ich mich außerdem an der gespenstischen Schönheit, die entsteht, wenn ein durch Röntgenstrahlung unter einer Farbschicht gefundenes Gemälde mit dem darüberliegenden Bild vermischt wird. Es gab einen guten Tweet über Odysseus und einen über Emily Dickinson in Zoom und noch einen zu Hildegard von Bingen beim Reparieren einer Heizung.
Mit diesem merkwürdigen Bild einer vom Vermieter lackierten Kakerlake wünsche ich euch einen entspannten Sonntag mit gemütlichen Kissen statt Krabbeltieren im Nacken.
Wenn euch dieser Newsletter gefällt oder ihr Menschen kennt, die sich ebenfalls über eine sonntägliche eMail freuen würden, dann bin ich euch für Weiterempfehlungen sehr dankbar. Ihr findet mich wie immer auf Twitter und auf Instagram, wo ich aktuell regelmäßig Bilder aus Island teile (für alle Polarkreisinteressierten unter euch).