Über Twitterhimmel und Twitterhölle
Herzlich Willkommen zur 83. Ausgabe dieses Newsletters!
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Am 10. Oktober 2020 habe ich getweetet: “Wollt ihr einen Newsletter, mit dem ich regelmäßig versuchen werde euch Unsinniges zu verkaufen und anzudrehen? Jetzt ist die einmalige Chance von Anfang an mit dabei zu sein! Wer nicht sofort unterzeichnet wird nassgeregnet.” Das war der Anfang dieses Newsletters, der mittlerweile von vielen Menschen Sonntags gelesen wird. Seitdem sind 83 Newsletterausgaben in den Posteingängen aufgeschlagen, das Format hat sich immer mal wieder ein wenig verändert, aber ein Thema ist von Anfang an zentral gewesen: Twitter.
Das hat den ganz einfachen Grund, dass TikTok und Twitter die entscheidenden Plattformen sind auf denen Memes und virale Trends entstehen. Ich habe mir inden vergangenen Newslettern viele Gedanken darüber gemacht, wie es in meinen Timelines aussieht, wie wiederkehrende Muster funktionieren, was mich erfreut und was mich ärgert. Manchmal war dieser Newsletter deswegen beinahe wie die Lokalzeitung eines bestimmten Twitterbereiches.
Es ist kein Zufall, dass dieser Newslettereinstieg ein wenig wie ein Abschied klingt, denn die letzten Tage waren auf Twitter von einer eskalierenden Chaosspirale bestimmt und – typisch für Twitter – einer extremen Freude daran diese Zerstörung spielerisch zu begleiten. (Alleine zu den ganzen Spielereien mit gekauften Blauhaken hätte ich einen ganzen Newsletter schreiben können).
Ich bin seit einem Vierteljahrhundert Online – starke middle age vibes, lol –, habe in IRC Chats abgehangen, im Microsoft Messengergechattet, in Geocities herumgespielt und hatte Seiten bzw. Profile auf Myspace, bei StudiVZ und sogar bei Orkut (erinnert sich noch wer an Ello?). Die meisten Plattformen, auf denen ich Zeit verbracht und die ich dann wieder verlassen habe, verließ ich mehr oder weniger bewusst, weil eine andere Plattform spannender wurde, neue Funktionen den Vibe unwiderruflich veränderten oder einfach interessantere Menschen an anderen Orten zu finden waren.
Ich bin eigentlich immer freiwillig gegangen, manchmal kurz und entschieden und manchmal über längere Zeiträume des nachlassenden Interesses. Irgendwann habe ich mich einfach nicht mehr bei StudiVZ oder Clash of Clans eingeloggt. Auch wenn mich mit einigen virtuellen Orten große Nostalgie verbindet (schöne Grüße an 8tracks und delicio.us), war es doch immer irgendwie okay, sie zurückgelassen zu haben.
Obwohl ich die großen Twitter-Doom-Szenarien nicht teile, sondern eher an ein langsames Verpuffen der Beliebtheit der Plattform glaube, kann man aktuell bereits sicher sagen, dass Twitter nach Musk anders sein wird als vorher. Ich habe zwar in diesem Jahr eine immer stärkere Plattformmüdigkeit gegnüber Twitter empfunden, aber habe aktuell dennoch das Gefühl, dass ich mit Twitter noch nicht abgeschlossen habe (auch wenn ich es gerade wirklich mit Mastodon versuche).
In diesem Newsletter wird es deswegen am Beispiel einiger Tweets und Memes ganz persönlich darum gehen, welche Rolle Twitter für mich gespielt hat. Unsere Timelines, unsere Ecken und Nischen in virtuellen Räumen sind natürlich individuell und deswegen sind auch die Erinnerungen und Erlebnisse, die wir mit einer Plattform assoziieren völlig unterschiedlich. Meine Wahrnehmungen decken sich also vermutlich nur teilweise mit euren. Darüber musste ich nachdenken, als ich las, wie Ryan Broderick Twitter als “Neighborhood Dive Bar” beschrieb und wie anders sich Twitter in manchen Phasen für mich angefühlt hat – vielleicht ein gutes Beispiel für Brodericks abschließende Bemerkung: “The internet connects us, but not physically. It’s a collection of shared experiences, but ones we all have in deeply personal and different ways.”
1.
Bei einer so massiv durch den Einsatz von Memes geprägten Plattform wie Twitter ist es naheliegend, dass auch das (vermeintlich) drohende Ende mit Memes verabreitet wird. Seit Tagen überschlagen sich deswegen User*innen dabei beliebte Memes irgendwie für “Twitter in Times of Musk” anzupassen. Dazu passt beispielsweise, dass eine Zeichnung des Titanic-Untergangs, die eigentlich als recht platte Smartphonekritik intendiert war und schon lange Online zirkuliert, plötzlich eine völlig neue Bedeutung gewinnt, angesichts der Tatsache, dass die Plattform gerade voll ist mit Screenshots aus dem Titanic-Film (darüber schrieb ich bereits in der letzten Ausgabe). Die User*innen wähnen sich nicht nur in der Rolle der zum Untergang spielenden Musiker sondern beteiligen sich am und beobachten das Chaos bei Twitter simultan.
Auch ein anderes Meme, nämlich das des Mädchens vor brennendem Haus, zirkuliert gerade in abgewandelter Weise als beliebtes Reaction Pic auf die zahlreichen Threads, in denen anhand anonymer Quellen davon bereichtet wird, wie chaotisch es in Twitters Hauptquartier zugeht:
2.
Ich habe mich im Mai 2008 bei Twitter angemeldet, damals kannte ich auf der Plattform nur einen sehr guten Freund, an den sich dann auch einer meiner ersten Tweets richtete. Seitdem ist viel Zeit vergangen, ich habe immer mal wieder Jahre gehabt, in denen ich die Plattform nur zum lurken benutzt habe, habe eine Weile nur im englischsprachigen Twitter herumgehangen und dann irgendwann angefangen mich auch selbst aktiver zu äußern.
Für mich war Twitter rückblickend in langen Phasen vor allem dann ein Kontakt zu sozialem Umfeld, wenn ich aufgrund kleiner oder kranker Kinder wenig Gelegenheiten hatte, außerhalb meiner Wohnung Menschen zu treffen. Was für ein Privileg es war, dass immer Leute da waren, egal ob ich nachts neben einem zahnenden Kind verzweifelte oder tagsüber das Gefühl hatte unbedingt mal ein Erwachsenengespräch hören zu wollen.
Für mich war Twitter in diesen Jahren weniger die “Neighborhood Dive Bar” sondern eine essentielle Verbindung nach Außen und damit auch ein effektives Werkzeug gegen die Isolation, die oft junge Eltern und vor allem Mütter trifft. In Zeiten der Pandemie habe ich den Eindruck gehabt, dass Twitter für sehr viel mehr Menschen diese Funktion übernommen hat: Sozialkontakt, Stimmengewirr, die Chance sich in der Nähe von anderen zu fühlen und Themen zu teilen.
Je länger ich Gesprächen zuhörte und irgendwann auch teilnahm, desto mehr entwickelte sich ein Netzwerk. Mittlerweile kann ich sagen, dass einige meiner engsten und wichtigsten Freundschaften auf Twitter entstanden sind. Man richtet sich in einem virtuellen Sozialgefüge ein. Nicht mit allen Menschen, deren Posts man liest, interagiert man überhaupt, aber man kennt Gesichter, Profilbilder und Accounts. Bei manchen freut man sich, wenn sie nach einer Weile wieder auftauchen, bei anderen sorgt man sich, wie es ihnen wohl gerade geht.
Es gibt anonyme Accounts, bei denen ich auch nach vielen Jahren überhaupt nicht weiß, wer dahinter steckt und die ich trotzdem vermissen würde, ihre bestimmte Art zu schreiben, ihren Witz, ihre Reaktionen.
Natürlich ist nicht alles rosig auf einer toxisch aufgeladenen Plattform, die algorithmisch Anreize setzt immer polarisierendere Meinungen zu vertreten, die teilweise voller Hass und Menschenfeindlichkeit ist und regelmäßig von einer Empathielosigkeit und Kälte durchzogen ist, die zynisch machen kann. Es gab Wochen, da ähnelte meine Timeline Schlammschlachten, mit sich wechselseitig bekriegenden Fraktionen. Aber es gibt eben auch die anderen Seiten, die sozialen und parasozialen Beziehungen, die aufrichtige Trauer, wenn Menschen sterben, mit denen man eigentlich nur in Favs interagiert hat und die sich langsam aufbauenden Freundschaften.
Und diese wechselseitige Unterstützung habe ich unter anderem auch dann zu spüren bekommen, als ich angefangen habe Romane zu veröffentlichen und als freie Autorin zu arbeiten. Ohne Twitter hätte ich in einem extrem umkämpften und oft von Neid und Konkurrenz geprägten Feld wie dem Kulturbetrieb vermutlich gar keine Chance gehabt. Die auf Twitter entstandene Sichtbarkeit und die Unterstützung der sich dort Aufhaltenden ist für viele freie Künstler*innen wichtig und auch für digitale Projekte wie 54books. Aktuell sehe ich noch kaum Plattformen, die gerade für die sprachbasierten Künste einen adäquaten Ersatz bilden.
Im nächsten Frühjahr werde ich fünfzehn Jahre auf der Plattform sein – wenn es sie dann nocht gibt. Nicht nur ich bin in dieser Zeit eine andere geworden, auch das Internet und die sozialen Medien haben sich massiv verändert. Ich bin gespannt, wie es weitergeht.
Twitter wäre jedoch nicht Twitter, wenn die leidenschaftlichen Abschiede nicht auch schon wieder in viralen Posts parodiert werden würden. Egal, ob die Plattform nun versinkt oder nicht, in zwei Wochen bekommt ihr den nächsten Newsletter über all die Dinge, die in unseren Timelines so geschehen.
In eigener Sache:
In der FAS vom 14.11 habe ich über die Frage nachgedacht, wer eigentlich hinter Mastodon steht.
Am 22.11 werde ich um 18 Uhr an einem Twitter Space der Kulturstiftung des Bundes teilnehmen, in dem es um die Frage “Twitter – geht’s noch?” geht.
Ttotz der allgemeinen Endzeitstimmung gab es in meiner Timeline auch in den letzten zwei Wochen sehr viel Posts, die mich froh gemacht haben, weil sie besonders abseitig, faszinierend oder lustig waren. Beispielsweise dieser Videoclip eines Babyelefanten, der einen Fernsehmoderatoren nicht in Ruhe lässt oder diese neue und sehr gute Variante des “Apfelstrudel bei Rewe”-Memes. Außerdem habe ich mich in diesen Zug verliebt, der Dominosteine ausspuckt.
Mit diesem interessanten Deep Fake-Video, wünsche ich euch einen wunderschönen Sonntag. Ihr findet ihr mich auf Twitter, Mastodon, Instagram oder TikTok.