Über singende Philosophen, Dark Academia und Kuchenhüte
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Am 11. März jährte sich der Tag, an dem die WHO Covid-19 offiziell zur Pandemie erklärt hat. Ein Jahr später findet sich in meiner Timeline vor allem die große Sorge vor der anlaufenden dritten Welle neben viel Frust über den grundsätzlichen Umgang mit der Pandemie und die Versäumnisse der letzten Jahre. Außerdem gab es in der letzten Woche viel Ärger über korrupte Politiker der CDU, die eine globale Krise als Gelegenheit zur Selbstbereicherung genutzt haben. In diese Stimmung passte ein lustiges virales Video, in dem über das Klischee besonderer deutscher Effizienz beim Lösen von Problemen gespottet wurde.
1.
Auf BuzzFeed kann man in einem Quiz herausfinden, welche der vier beliebtesten Academia-Ästhetiken am besten zu einem passt: Dark, Light, Writer oder Romantic Academia. (Ich habe übrigens Light Academia als Resultat bekommen: “The most significant part is a passion for learning and a love for life.”) Von den 9 Fragen haben nur zwei wirklich mit Büchern zu tun, der Rest fragt nach Lieblingsaktivitäten, Musikgeschmack und Vorlieben bei der Atmosphäre von Bibliotheken. Ich vermute meine Vorliebe für helle Räume hat mich in die Ecke der Light Academia gerückt. Aber worum geht es bei diesem Quiz eigentlich? Passend zu dem weiten Bereich, der von den Quizfragen abgedeckt wird, handelt es sich bei den vier verschiedenen “Academias” nicht um eine wissenschaftliche Haltung, eine Welteinstellung oder eine Denkschule, sondern es geht um im weitesten Sinne ästhetische Kategorien.
Die verschiedenen Academias sind hypervisuelle ästhetische Stilgemeinschaften, die sich um ein bestimmtes inhaltliches Setting und Farbschema herum bilden, das sich bei Instagram oder TikTok gut umsetzen lässt und mit konventionalisierten Inszenierungsstrategien einhergeht. Auf der Aesthetic-Seite der Plattform Fandom finden sich zahlreiche der vielen verschiedenen detailliert aufgeschlüsselten Untergruppen der Academia-Ästhetik, innerhalb derer Dark Academia die wichtigste Rolle spielt.
Dark Academia ist als Internetphänomen nicht unbedingt neu, sondern hat schon in der Hochphase von Tumblr (und Pinterest) eine große Rolle gespielt. Mittlerweile finden sich Dark Academia Accounts, einzelne Bilder und Clips in großer Menge auf TikTok und Instagram. Die Ästhetik lässt sich am besten beschreiben als Gothic Nerds besuchen Ivy League Universitäten oder Harry Potter in Tweed trifft auf Dead Poets Society. In den Clips und Bildern wird ein von einem traditionsreichem akademischen Milieu inspirierter Lifestyle ästhetisiert. Ob die vielfach fotografierten staubigen in Leder eingebundenen Bücher wirklich gelesen werden, ist dabei vielleicht nur sekundär. Es geht viel mehr um eine affirmative Haltung zu klassischer Bildung, dem Lesen von Büchern und schreiben von Gedichten, die sich eben auch in der übersteigerten Wertschätzung eines klassischen Kanons ausdrückt. Dies führt auch zu Kritik, denn Dark Academia hat einen sehr eurozentrischen und bildungsbürgerlichen Referenzrahmen und reproduziert dabei die Ausschlüsse weißer Elite-Institutionen.
In the halls of Dark Academia, nostalgia and a world free of modern technology reign. Many of the community members focus on what life might have been like in the 19th and early 20th century at private schools in England, boarding schools, prep schools or Ivy League colleges in New England. (Academia Lives — on TikTok, New York Times, 2. Juli 2020.)
Der schon 1992 veröffentlichte Roman The Secret History von Donna Tartt ist ein Schlüsseltext für die Dark Academia Ästhetik. Mittlerweile erscheinen aber auch neue Bücher, die sich an Dark Academia anlehnen, beispielsweise Leigh Bardugos Ninth House von 2019. Entscheidend für das sich dynamisch entwickelnde literarische Genre ist das akademische Setting dieser Romane, das eben nicht dem Campus Roman entspricht, sondern dem akademischen Rahmen eher den Charakter einer Geheimgesellschaft gibt.
Seit Beginn der Pandemie sind retrotopische Ästhetiken wie Dark Academia oder Cottagecore in den sozialen Medien immer populärer geworden. Bei Cottagecore geht es beispielsweise um die Imagination eines ländlichen Rückzugsraums. Die Cottagecore Ästhetik idealisiert das Landleben hat aber mit der visuellen Ausgestaltung einer Art queeren Pastorale durchaus auch subversive Aspekte, die über eine rein nostalgische Landlust hinausweisen.
Yet cottagecore has been the standout aesthetic of 2020 for the same reason that everything else happened in 2020. When the pandemic hit, idle homemaking became less escapism and more like an inescapable reality. Cottagecore under lockdown, then, became a way to spin the terror and drudgery into something adorable — and interest in it directly correlated to how bad it became outside. (Rebecca Jennings: “Once upon a time, there was cottagecore” Vox, 3.8.2020)
2.
Der Spaß mit AI gestützter Bild- und Videomanipulation – bereits in den letzten zwei Wochen eines der Themen dieses Newsletters – ist auch in dieser Woche weitergegangen. Die Bearbeitung von statischen Bildern zu animierten Videosequenzen eignet sich besonders gut, um vielfach geteilte Inhalte in den sozialen Medien zu produzieren und andere zum Ausprobieren zu animieren.
In der letzten Woche war es die App Wombo, die aus einem statischen Bild einen Videoclip generiert, in dem die abgebildete Person zu Ohrwurm-Hits die Lippen und den Kopf bewegt. Die limitierte Liedauswahl rangiert von Rick Astley’s “Never gonna give you up” bis zu den Venga Boys mit “Boom, Boom, Boom, Boom!!” und trägt entscheidend zum komischen Potential der entstehenden Clips bei. Nicht zufällig werden besonders die Clips häufig geteilt, in denen respektierte Geistesgrößen plötzlich anfangen zu “singen”. In den letzten Tagen hab ich in meiner Timeline eine große Zahl mit Wombo bearbeiteter männlicher Philosophen gesehen, jedoch nur sehr wenige berühmte Frauen. Bilder von Schopenhauer, Hegel, Karl Marx und Adorno – man könnte die Liste noch weiterführen – wurden mit Wombo bearbeitet.
Die Nachfrage war zeitweise so stark, dass der Server der App zusammenbrach. Nicht öffentlich geteilt, wurden die vielen Bilder von Chef*innen, lebenden Prominenten und anderen Zeitgenossen, die vermutlich mit Wombo bearbeitet wurden und für heimliche Freude bei den Betrachtenden sorgten. Der komische Effekt bei den häufig geteilten Wombo-Clips basiert auf dem starken Gegensatz von Lip Syncing und Tanzbewegungen mit dem gesellschaftlichen Status der bearbeiteten Personen. Wie schon bei der Bearbeitung historischer Aufnahmen, Gemälde und Stockphotos mit der Deep Nostalgia AI ist außerdem der Gegensatz zwischen dem statischen Bild und dem bewegten generierten Clip erstaunlich faszinierend.
Dieser “Vorher/Nachher”-Effekt war bereits entscheidender Faktor für den viralen Erfolg AI gestützter Bildbearbeitungs-Apps wie FaceApp oder Gradient, mit denen man Bilder von sich und anderen beispielsweise jünger oder älter machen oder sich in eine Elfe oder einen Cartoon-Charakter verwandeln kann. FaceApp gibt es beispielsweise bereits seit 2017, diese Form AI gestützter Bildbearbeitung mit Trendpotential ist – im Gegensatz zu den gerade überall auftauchenden Generierungsapps für Videoclips – also mittlerweile nicht mehr neu.
Interessant wird es, wenn diese bereits etablierte Form der Bildbearbeitung mit der Generierung von Videoclips vermischt wird, wie ich an einem Beispiel zeigen möchte: Der Künstler Johann Rosario hat auf Basis von fünf bekannten Portraits von Immanuel Kant ein neues Portrait montiert.
Das Bild wurde von Rosario auf Dribble, einer Plattform für Künstler*innen, geteilt. Der User @Geistb0t teilte diese Variante eines überraschend attraktiven Kants im letzten Frühjahr auf Twitter und bearbeitete das Portrait anschließend mit FaceApp, um den illustrierten Philosophen zu verjüngen. In dem generierten Bild wirkt der Philosoph nicht nur jüngern, sondern auch lebendiger:
Der User @jackeselbst schreibt am 11. März: “Just as Kant's critical philosophy lead him to the precipice of absolute idealism only see him to recoil, leaving the task of completing the critical philosophy to Hegel, I am here to finish what @Geistb0t started.” und teilt eine Wombo-Bearbeitung, in der “Hot Kant” ein Lied von den Venga Boys lip synced:
Wenn all die Freude und Faszination mit diesen neuen Spielereien sich etwas gelegt hat, dann wird es vielleicht endlich Zeit einmal ausführlicher darüber nachzudenken, was eigentlich die ethischen Implikationen solcher Manipulationen sind, bei denen die Gesichtszüge eines Menschen auf die Bewegungsmuster eines anderen Menschen gelegt werden. Einerseits fühlen sich diese Bearbeitungen von Gesichtern historischer Persönlichkeiten ohne Zustimmung ein wenig übergriffig an und andererseits werden diese Programme sehr rasch auch dafür verwendet beispielsweise Diktatoren Popsongs singen zu lassen.
(Weitere News zum Thema Deepfakes kommen aus den USA, wo eine Mutter versucht hat Cheerleader-Konkurrentinnen ihrer Tochter mit einem Deepfake-Video, das die Mädchen nackt beim Rauchen und Trinken zeigt, aus dem Wettbewerb zu entfernen.)
3.
Meghan und Harry haben Oprah ein Interview gegeben. Ich gehe davon aus, dass alle wissen, worum es in diesem Interview ging und wer diese Personen sind, sodass ich nichtmal die Nachnamen nennen muss. (Hat Harry überhaupt einen Nachnamen?) Das Interview wurde auf Twitter sehr viel geteilt und kommentiert und rasch auch kreativ verarbeitet, beispielsweise mit einem Supercut von Oprah-Reaktionen oder diesem Thread mit Reaktionen britischer Zuschauer*innen auf Medikamentenwerbung in den USA in den Interviewpausen. Besonders häufig habe ich ein Meme gesehen, das Bilder aus dem Interview mit falschen Untertiteln versieht und am Ende ein Bild mit Oprahs expressiver Reaktion zeigt:
4.
Die Initiative Fair share for women artists postet im März jeden Tag auf Instagram und Facebook visualisierte Statistiken, die das Ausmaß der Ungerechtigkeit im Bereich der bildenden Kunst sehr gut veranschaulichen.
Es gibt ein neues Internet-Drama-Song Video, dieses Mal mit einem sehr schweren Pferd und dieses Video von einem Drohnen-Flug in eine Bowling Alley ist erstaunlich gut gemacht. In diesem Thread wurden die Kopfbedeckungen der Queen mit mehrstöckigen Kuchen ersetzt. Wenn ihr eure Laune mit nur einem Song aufbessern wollt, dann findet ihr hier in den Antworten viele persönliche Lieblingslieder und hier gibt es einen langen fortlaufenden Thread über einen Vogel, der auf interessante Art und Weise wiederbelebt wurde. Wer einer Frau mit sehr beruhigender Stimme dabei zuschauen möchte, wie sie Bienen umzieht und rettet, wird bei diesem sehr erfolgreichen TikTok-Account fündig.
Ich wünsche euch einen erholsamen Sonntag und einen guten Wochenstart! Auch in dieser Woche ein Dank an alle, die sich bei mir mit Hinweisen oder einer freundlichen Nachricht gemeldet, den Newsletter gefavt oder geteilt haben.
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