Über leckende Kühe, schnurrende Waschbären und Geisterklaviere
Gefällt euch Phoneurie? Für alle, die meine Arbeit an diesem Newsletter unterstützen wollen und können, habe ich eine Abonnier-Möglichkeit hinzugefügt. Der sonntägliche Newsletter wird auch weiter für alle Interessierten ohne Paywall zugänglich bleiben, aber ich werde allen zahlenden Subscribern gelegentlich Einblicke in meine laufenden Projekte bieten und freue mich sehr über jede Unterstützung für diesen Newsletter.
Weil ich nun wiederholt danach gefragt worden bin: Ihr könnt mir natürlich auch gerne via Paypal einen Kaffee oder ein Lakritzeis spendieren.
Die Woche stand im Zeichen der schrecklichen Ereignisse in Afghanistan, die mit vielen Meldungen, Bildern und ausführlichen Threads in den sozialen Medien Resonanz fanden. Für fundierte Informationen empfehle ich euch die Accounts von Nabard Faiz, Jasamin Ulfat, Emran Feroz und Waslat Hasrat-Nazimi.
In diesem Newsletter werde ich deswegen nicht über aktuelle Memes (von denen es auch nicht besonders viele gab) und nur wenig über virale Tweets der letzten Woche schreiben, sondern stattdessen nah am Beispiel einige Gedanken zu Literatur auf Twitter und zu Memes als Literatur formulieren.
1.
In Island wird – wie auch in Deutschland – im September gewählt. Ein in Island virales TikTok-Video der letzten Woche ist der Beginn der Serie “Kosningalokur” (Wahlsandwiches) des Filmemachers und Koch-Enthusiasten Víðir Hólm Ólafsson. In ironisch kommentierten Kochvideos werden alle Kandidat*innen als Sandwichrezept umgesetzt. Den Anfang machte der Spitzenkandidat der neoliberalen Konservativen, der als “Surf and Turf”-Sandwich präsentiert wurde: Ein überdimensionales Sandwich mit Hummer, der natürlich über familiäre Verbindungen erhalten wurde und zu lang gebratenem Steak, für das jegliche Verantwortung abgelehnt wird. Serviert wird der ganze Haufen mit Bernaise-Sauce und Champagner – passend zum Kandidaten. Seitdem ich das Video gesehen habe, denke ich darüber nach, welche Sandwiches oder Kochrezepte zu den Kandidat*innen der deutschen Bundestagswahl passen würden.
2.
Vielleicht sind Tweets und Threads mit Plot- oder Titelvorschlägen für zukünftige Romane, Filme oder TV-Serien mein Lieblingsgenre von Literatur auf Twitter. Es gibt einige Accounts, die dieses Format regelmäßig meisterhaft umsetzen und extrem kondensierte Skizzen machen, bei denen das ungeschriebene Werk bereits im Kopf entsteht. Das Genre an sich ist nicht neu, bereits im Werk von Stanisław Lem finden sich beispielsweise Rezensionen und Vorwörter zu fiktiven Büchern und in dem Buch “Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher” von 2014 liest man von Werken, die nie geschrieben wurden, gemeinsam mit extra dafür gestalteten Covern.
Kurze Plotskizzen zukünftiger Bücher, die in Tweets immer wieder formuliert werden, eignen sich formal besonders für Twitter und sind vielleicht eines der zentralen Beispiele von Literaturformen, die auf der Plattform florieren. Kreativität äußert sich bei diesem Format nicht in der Ausarbeitung langer Fiktionen, sondern in der kreativen Formulierung möglicher Werken.
Es gibt auch Bots, wie den Die Bestseller der Zukunft-Bot, der immer wieder neue Titelentwürfe für Bestseller Romane mit der Formel “Der X des Y” teilt. Der @MagicRealismBot schreibt vier Stunden Tweets, die auch als ultrakurze Pitches für mögliche Romane gelesen werden können und der Midsomer Murders Bot teilt immer neue Plotskizzen für Folgen der beliebten Serie.
3.
Der britische Autor Sam Garland ist im Internet unter dem Namen seines Reddit-Accounts “Poem_for_your_sprog” bekannt, mit dem er in Reddit-Threads mit relativ kurzen Gedichten antwortet und Posts zusammenfasst. Seine zahlreichen Gedichte sind so populär, dass es mittlerweile Sammlungen der initialen Posts und zugehörigen Gedichte gibt.
Im Herbst 2016 gab es einen Reddit-Thread, in dem die Mitarbeitenden von Gesundheitsämtern nach ihren ekelhaftesten Erfahrungen gefragt wurden. In den Antworten erzählte ein User, dass die Bäckerei, in der sein Stiefvater arbeitete, eine Gesundheitsinsoektion erfolgreich überstanden habe, obwohl eine ausgebrochene Kuh vor den Augen des Beamten alle Brote abgeleckt hatte. Sam Garland schrieb daraufhin folgendes Gedicht, das mittlerweile als “I lik the bred”-Meme zu einem Template für unzählige davon inspirierte Gedichte geworden ist:
my name is Cow,
and wen its nite,
or wen the moon
is shiyning brite,
and all the men
haf gon to bed -
i stay up late.
i lik the bred.
In einem eigenen Subreddit mit 156.000 Mitgliedern werden auf dem I lik the bred-Template aufbauende Gedichte gesammelt. Der im Subreddit angepinnte Post “How to write a good 'i lik the bred' poem” ist eine Art normative Poetik dieser spezifischen Gedichtform, in der Silbenzahl, Reimform und Metrik für die interessierten Mitschreibenden definiert werden. Die Gedichte finden sich aber nicht nur bei Reddit sondern auf allen Plattformen.
Hier ist übrigens ein Tweet von Kathrin Passig, in dem sie zuerst das Icebox-Meme, basierend auf dem Gedicht von William Carlos Williams, und dann das “I lik the bred”-Format auf einen Videoclip anwendet, in dem ein Eichhörnchen ein tragisches Ende findet.
4.
Der Account @BadMedicalTakes sammelt Screenshots mit teilweise haarsträubenden Aussagen zu Medizin und der Funktion des menschlichen Organismus. Manche Tweets sind in ihrer politisierten Verblendung unfreiwillig komisch, andere sind wirklich gruselig und manche auch nur uninformiert. Es gibt einige weitere “XY Takes” Accounts, die in den Fluten politischer Propaganda, Trollerei und schlichtem Unsinn, die sich in den Sozialen Medien auch finden lassen, sehr leicht fündig werden. Teilweise wirklich verstörend sind beispielsweise die Screenshot-Tweets von @HotMasculinityTakes, aus denen sich einiges über Genderstereotypen lernen lässt und die gute Einblicke in Incel-Kultur und Maskulinismus ermöglichen.
In der letzten Woche habe ich gelernt, dass es sehr gut ist, aufgeschnittene Paprika mit Wackelaugen zu versehen. Turnende, die in Ganzkörperkostümen Sport machen sind immer für viralen Content gut geignet. Dieses Mal erschien ein Einhorn am Reck in meiner Timeline. Wusstet ihr, dass Waschbären schnurren können?
In der letzten Woche gab es eine interessante Anzeige für ein Geisterklavier und einen gruselig-faszinierenden Tweet (unbedingt die zahlreichen Kommentare lesen) über den Bericht eines 3-Jährigen Kindes von einem früheren Leben. Mit diesem schönen Tweet zu sternförmigen Feen-Münzen wünsche ich euch nun einen guten Start in die nächste Woche.
Auch dieses Mal gilt mein Dank allen, die sich bei mir mit Hinweisen oder einer freundlichen Nachricht gemeldet, den Newsletter gefavt oder geteilt haben. Wenn euch dieser Newsletter gefällt oder ihr Menschen kennt, die sich über diesen Newsletter freuen würden, dann bin ich euch für Weiterempfehlungen sehr dankbar. Wie immer findet ihr mich auf Twitter und auf Instagram.