Über Krieg in den sozialen Medien (II)
Herzlich Willkommen zur 64. Ausgabe dieses Newsletters!
Es ist immer noch Krieg in der Ukraine und auch der Social Media War wird in den Timelines weitergeführt. Ich habe deswegen lange darüber nachgedacht, wie und ob ich einen Newsletter in dem Format schreiben kann, in dem ich ihn sonst verfasse, mit interessanten Funden, Nachdenken über das Internet und vielen Verweisen auf die schönen Dinge, die einem täglich in der Timeline begegnen.
Es gibt den Begriff des Context Collapse für das Phänomen, wenn ein Inhalt aus einem bestimmten Kontext in einen anderen eindringt, der ursprüngliche Kontext verloren geht und neue Zielgruppen mit der Information konfrontiert werden. Normalerweise sind unsere Timelines so schnell und multiperspektivisch, dass wir uns an diese Form von permanentem Context Collapses rasch gewöhnen: auf einen Tweet mit Bildern aus einem Katastrophengebiet, folgt ein Tweet mit dem Bild einer Kaffeetasse, folgt ein Tweet mit Handlungsaufforderung für ein völlig anderes Thema, folgt ein Tweet mit einem anderen gerade aktuellen Meme.
Im besten Fall entsteht aus dieser Dynamik etwas, das ich in einem früheren Newsletter einmal als Timeline Serendipity bezeichnet habe, “wenn also zwei zufällig aufeinander folgende Tweets sich so ergänzen, dass ein komischer Effekt oder ein anderer Bedeutungsmehrwert entsteht. Für mich sind diese Momente ein besonders deutlicher Hinweis auf den dynamischen Kontext der Plattform, in dem alle Posts erscheinen.” Im schlimmsten Fall entsteht jedoch aus diesem Zusammentreffen verschiedener Informationen das Gefühl, dass wichtige Themen nicht mit der angemessenen Wertschätzung behandelt werden.
Wir fühlen uns unwohl, weil unterschiedliche Inhalte einer unterschiedlichen Form von Aufmerksamkeit bedürfen. Die meisten von uns wollen nicht ein Katzenbaby bewundern oder Produkte anschauen und direkt danach katastrophele Kriegsbilder sehen, aber genauso funktionieren die Timelines der sozialen Medien, weswegen sie aktuell bei vielen Menschen für unangenehme Gefühle sorgen. Daisy Alioto nennt dieses Phänomen im Dirt-Newsletter Attention Collapse.
Dieses Zusammentreffen unterschiedlicher Informationen verstärkt sich momentan, weil der monothematische Imperativ – wie Johannes Franzen es hier genannt hat – der ersten Kriegstage langsam aufhört, also der kollektive Druck abnimmt, sich auch in den sozialen Medien überwiegend einem Thema zu widmen oder ansonsten zu schweigen. Für viele führt deswegen der extreme Attention Collapse aktuell zu einem Bedürfnis nach Rückzug aus den sozialen Medien, weil die Timeline-Mischung als zusätzlich belastend empfunden wird. Es ist wichtig, dass Menschen auch eine Pause von schrecklichen Informationen machen – ich schrieb darüber bereits in der letzten Woche, in diesem Thread und Artikel gibt es weitere Informationen über den potentiell traumatisierenden Effekt der Social Media War Bilderflut.
Was bedeutet das also nun für diesen Newsletter? In dieser Woche möchte ich auf jeden Fall nicht zu den ineinanderfallenden Aufmerksamkeiten beitragen und stattdessen den Blick weiter ausschließlich auf den Krieg richten und die Art und Weise, wie er in den sozialen Medien geführt wird. Denn aktuell sehen wir, wie verschiedenste Gruppen und Online-Gemeinschaften versuchen, mit der Realität des Krieges in ihrer Timeline umzugehen und es gibt neue Muster und Formen, mit denen der Krieg Online erzählt wird.
Dieser Newsletter wird also ein weiteres Mal von Krieg in den sozialen Medien handeln und das auch aus einem weiteren Grund: schon in naher Zukunft wird der Verlauf dieses Krieges im virtuellen Raum kaum noch zu rekonstruieren sein. Die flüchtigen sozialen Medien erfordern eine aktive Teilnahme und beschreibende Archivierung, damit die Spuren dieses Krieges, der auf extreme Art und Weise auch Online geführt wurde und wird, nicht verschwinden. Ich will deswegen in diesem Newsletter versuchen den Kriegsverlauf der Timelines zumindest ein wenig zu dokumentieren.
1.
In den letzten Tagen habe ich immer wieder viral geteilte Videoclips gesehen, deren Gemeinsamkeit war, dass Menschen in Fernsehübertragungen im Angesicht des Krieges und seiner Konsequenzen ihre Gefühle nicht mehr zurückhalten konnten oder sie ohne Rücksicht auf etablierte Protokolle ihren Reaktionen freien Lauf ließen. Der frühere Oligarch und russische Unternehmer Michail Borissowitsch Chodorkowski kann bei einem Interview die Tränen nicht mehr stoppen; der Übersetzer des Euopaparlaments muss hörbar gegen die Tränen kämpfen, als er den ukrainischen Präsidenten ins Englische übersetzt und bereits zuvor musste die Übersetzerin der Welt aufgrund von Tränen pausieren, während sie ebenfalls eine Rede von Selenskyj übersetzte.
Ein weiterer Clip, der eine andere Art von Gefühlsausbruch zeigt, wurde ebenfalls viral geteilt und zur Quelle von Meme-Bildern. In dem Video stößt ein Börsenanalytiker live im russischen Fernsehen auf den Untergang des russischen Aktienmarktes an. All diese Emotionen sind offensichtlich real. Schock und Trauer der Menschen führen dazu, dass etablierte Protokolle gebrochen werden. Gleichzeitig erfüllen diese Videos offensichtlich ein Bedürfnis bei den Menschen, die viele tausend Mal auf Retweet klicken, die Frage bleibt also: Warum verbreiten sich gerade diese Videos so ausgesprochen erfolgreich und welche übergeordnete Funktion erfüllen sie bei der Rezeption des Krieges?
Der Gefühlsausbruch ist in diesen Medienkontexten immer auch ein Ablegen der professionellen Maske, der Mensch hinter der Funktion wird sichtbar. Diese Filme machen also besonders stark deutlich, dass dieser Krieg nichts abstraktes ist, das sich aus bestimmten Lebensbereichen herausdrängen lässt. Krieg ist ein so allumfassendes Ereignis, dass Einzelpersonen derartig stark betrifft, dass sie auch im beruflichen Kontext das Protokoll brechen. Diese Wirkung verstärkt sich noch – wie in den Aufnahmen der Übersetzer*innen – wenn man deutlich hört, wie sie versuchen ihre Gefühle zu unterdrücken und doch daran scheitern.
Diese Aufnahmen funktionieren also einerseits als perfekte Visualisierung der Schrecken des Krieges, sie sind meiner Meinung nach aber noch aus einem anderen Grund so extrem erfolgreich: Das Anschauen der Videos ist eine Beobachtung zweiter Ordnung. Wir sehen oder hören Menschen dabei zu, wie sie auf Schilderungen des Krieges reagieren – in den konrekten Beispielen die Reden des ukrainischen Präsidenten und Berichte über den russischen Aktienmarkt. Die Gefühle, die dabei sichtbar bzw. hörbar werden, entsprechen vermutlich recht gut dem aktuellen Erleben vieler User*innen in den sozialen Medien, dem Beobachten eines Krieges in unserer Timeline. Der Gefühlsausbruch hat so bei einigen der Clips vielleicht einen beinahe kathartischen Effekt, die Tränen der Übersetzer*innen oder der fassungslose Fatalismus des Börsenanalysten entsprechen den Emotionen der User*innen beim Scrollen in der Timeline.
2.
Auf Spotify werden immer wieder Playlists zu aktuellen Ereignissen von den User*innen prduziert und die Plattform ist mittlerweile voll mit Listen, die Bezug auf den russischen Anfgriffskrieg nehmen. Dabei folgen die Playlists unterschiedlichen Konzepten, einige stellen einfach Musik der Region zusammen, während andere offensichtlich versuchen durch die Titelauswahl ein politisches Statement abzugeben.
Ein besonderer Trend sind dabei Playlists, die mit einem Bild des “Slavic Doomer”-Wojak Memes illustriert werden. Der Feels Guy / Wojak ist eine Paint-Illustration eines Männergesichtes, das einen merkwürdg traurig-melancholischen Vibe ausstrahlt. Das Bild wurde in polnischen Imageboards popularisiert, weswegen der Feels Guy auch den polnischen Namen “Wojak” (Soldat) trägt.
Das Bild des einsamen und traurigen Wojaks zirkuliert schon eine halbe Ewigkeit Online und findet sich in unzähligen Memes und Variationen wieder. Für die Variante des “Slavic Doomers” wird der Wojak in seiner Inkarantion als deprimierter “Doomer” mit verschiedenen (russischen) Militäruniformen dekoriert und vor Bildern von russischen Kriegsgebieten oder russischen Panzern gephotoshopped. Im Subreddit r/WojakTemplate finden sich zahlreiche solcher Bilder von “Wojak Doomern” in russischen Uniformen, die vermutlich dort ihre Zirkulation durch das Internet begonnen haben. Playlists mit Varianten dieser Illustration finden sich nicht nur auf Spotify, sondern auch auf Soundcloud und Youtube, oft in Verbindung mit trauriger russischer Musik oder russischen Kriegsliedern.
Der deprimierte und hoffnungslose Slavic Doomer illustriert nun auch zahlreiche Playlists, die sich konkret auf den Krieg zwischen Russland und der Ukraine beziehen und gibt dadurch vermutlich ein visuelles Statement zur Unsinnigkeit des Krieges ab. Die Cover solcher Playlists sehen ungefähr so aus:
Doch nicht nur auf Spotify und in Slavic Doomer Playslists wird gerade mit Musik auf den Krieg reagiert. Auf Youtube wird beispielsweise erstaunlich geschmacklos dazu eingeladen mit Musik den Krieg zu vergessen:
Und in den sozialen Medien zirkulieren zahlreiche Videos des Bayraktar-Songs, einem von den ukrainischen Streitkräften veröffentlichten Lied, das den türkischen Drohnen gewidmet ist, die aktuell eine entscheidende Rolle im Krieg spielen.
3.
Als Social Media War wirkt der Krieg auf die unterschiedlichsten Gemeinschaften des Internets und diese reagieren mit den für sie spezifischen Kommunikationsformen und Verhaltensweisen. Während in der Crypto-NFT-Community Menschen ihre Bored Ape-NFTs aus “geopolitischen Gründen” wieder abstoßen, reagiert die Hexencommunity mit Flüchen und Schutzritualen.
Magie ist in den sozialen Medien auch eine ästhetische Praxis: Die Hexen auf Instagram investieren besonders viel Mühe, um ihre Hexenaltare visuell ansprechend zu inszenieren, während die Hexen auf TikTok ihre Magie vor allem performativ inszenieren, in abgefilmter Interaktion mit dem eigenen Hexenaltar, durch die entsprechende Präsentation mit der Selfie-Kamera oder durch ausgiebig inszenierte Gruppenrituale.
In beiden Communities ist auch der Ukraine-Konflikt mittlerweile ein Thema, das mit öffentlich inszenierten Ritualen aufgegriffen wird, in denen wahlweise versucht wird die Ukraine mit Schutzmagie und Schutzzaubern zu umhüllen oder Putin zu verfluchen. Auf beiden Plattformen finden sich zahlreiche Beiträge unter #WitchesforUkraine, wer also schauen möchte, wie die Gemeinschaft der Hexen in den sozialen Medien auf den Krieg reagiert, wird dort fündig werden.
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