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Der Merkur ist gerade rückläufig (“Mercury retrograde”) und Verweise darauf finden sich überall in den sozialen Medien, in denen Astrologie eine immer stärkere Rolle spielt – mal halb-ironisch und mal komplett ernsthaft betrieben. Das viele Nachdenken über den Merkur und die Idee, dass ein rückläufiger Merkur mit Pech verbunden sei, sind mittlerweile zu einem Internet-Phänomen geworden. Im Harper’s Bazaar gab es deswegen einen sehr interessanten langen Essay von Jo Livingstone über das astrologische Phönomen und erfundene Traditionen in Zeiten von Social Media, den ich euch hiermit empfehle.
Was außerdem noch passiert ist: Irgendwie hat die Billigfluglinie Ryan Air einen der besten Tweets zum Crypto Kollaps gemacht und jetzt weiß ich auch nicht mehr, was ich davon halten soll. Eigentlich bin ich ja leidenschaftliche Anhängerin der Anti-Corporate-Tweet Fraktion und muss nun vermutlich mit dieser kognitiven Dissonanz leben. Zumindest gibt es zum Trost Madonnas Nackt-NFTs.
1.
Island bietet im Rahmen der Marketing-Aktion “OutHorse Your Email to Iceland’s Horses” an, dass ein Islandpferd deine Abwesenheitsemails übernimmt. Nach dieser irgendwie doch ganz niedlichen Kampagne wäre es schön gewesen, wenn mit Pferden für diese Woche Schluss gewesen wäre, aber so war es leider nicht: Auf Twitter ging gleichzeitig einer dieser derartig absurden Alpha-Incel Threads viral, bei denen man einfach unsicher ist, ob es Parodie oder Realität ist: Internetbrain 2022.
Die Twitter-Bio des Accounts ist zumindest vielsagend (“Writer on Biblical Masculinity, Gender Roles, Masculine Frame, Female Nature, & General Manhood.”) und es gibt natürlich auch noch ein eBook zu kaufen, für all diejenigen, die richtige Alpha-Männer werden wollen.
Von einem grotesken Alpha-Incel hin zu einem grostesken Superreichen: Elon Musk wird beschuldigt eine Stewardess belästigt zu haben, dabei hat er ihr dann als Entschädigung/Bezahlung ein Pferd angeboten, wie der weirde Creep, der er offensichtlich ist.
2.
Am letzten Samstag hat mal wieder der Eurovision Songcontest stattgefunden, der seit Jahren auf Twitter ein Großereignis ist. Am Tag drauf wurde ein Video viral verbreitet, in dem ein junger und recht abgemagerter Soldat in Mariupol mitten in dem belagerten Stahlwerk Azovstal das ukrainische Gewinnerlied des Kalush Orchestra singt, während im Hintergrund Gefechtslärm zu hören ist. Der Clip ist ziemlich beeindruckend inszeniert. Der singende Soldat in voller Gefechtsmontur wird im seitlichen Profil gefilmt, die Betonwände im Hintergrund verstärken den Hall seines Gesanges und der leichte Lichteinfall von oben verstärkt den dramatischen Effekt noch.
Der singende Soldat des ultrarechten Asow Regiments heißt Dmytro ‘Orest’ Kozatsky und hat auf seinem Twitter-Account etwas über 25.000 Follower*innen und auf Instagram knapp 70.000. Ein Blick in sein Profil verrät, dass er schon länger den Kampf um das Stahlwerk dokumentiert. Einige seiner Fotos aus dem besetzten Stahlwerk, die das Elend und die Verletzungen der Kämpfer*innen zeigen, sind bereits zuvor mit großere Resonanz international aufgenommen worden. Kozatsky hat offensichtlich ein extremes Gefühl für die Inszenierung wirkmächtiger Bilder in apokalyptisch anmutenden Settings und es ist kein Wunder, dass bereits am 16. Mail ein weiteres Foto von ihm viral durch die Timelines wanderte.
Das Bild zeigt einen Soldat, der mit ausgebreiteten Armen in einem Lichtstrahl steht, der durch das zerbombte Dach des Stahlwerks fällt. Die Ikonographie des des Bildes ist recht offensichtlich, von der Anspielung auf die Kreuzigungsszene bis zur Lichtmetapher, die im Gegensatz zu der zerstörten Industriearchitektur nochmal verstärkt wird.
Am 20. Mai schreibt Kozatsky zwei letzte Tweets vor der russischen Gefangenschaft, in einem der Tweets ist ein Link zu einem Google Drive mit hochaufgelösten Bilddateien seiner Fotografien enthalten, versetzt mit der Bitte die Bilder bei Wettbewerben einzureichen. Am 21. Mai veröffentlicht der Youtube-Kanal #Babylon’13, der dokumentarische Videos über den Krieg in der Ukraine teilt, ein von Kozatsky gefilmtes Abschiedsvideo mit dem Titel “Festung Mariupol. Der letzte Tag im Azovstal”.
In dem Video mit zahlreichen Aufnahmen der apokalpytisch anmutenden Ruine im Regen inszeniert sich Kozatsky zu atmosphärischen Klängen als einsam rauchender Soldat. Die Bildsprache und der intendierte emotionale Efffekt tragischer Heldenhaftigkeit, die sich im Video findet, ähnelt der des ikonischen Lichtstrahlbildes und des viralen Gesangsvideos.
In der Videobeschreibung findet sich die Information, dass Dmytro ‘Orest’ Kozatsky der Leiter der Presseabteilung des Asow Regiments ist. Eine Aufgabe, die er offensichtlich mit großem Erfolg umgesetzt hat. (Schon in den letzten Jahren hat übrigens das Asow Regiment die sozialen Medien erfolgreich für die Rekrutierung neuer Mitglieder verwendet.)
Kurz nach der großen Reichweite der viralen Tweets des Accounts begannen dann pro-russische Accounts die alten Posts und Bilder von Kozatsky zu durchsuchen und fanden wohl mehrere Bilder, die eine Hakenkreuz-Tätowierung zeigen, eine Pizza mit Tomatensoßen-Hakenkreuz und Kleidung mit rechten Chiffren, die rasch gelöscht wurden. Kozatsky erklärte das Löschen dieser alten Aufnahmen damit, dass seine neuen Follower*innen diese “Witze” nicht verstehen würden.
Die Bilderwelten des Krieges in den sozialen Medien sind schwer zu durchschauen, noch schwieriger ist es, die Interessen hinter viralen Botschaften zu verstehen und einzuordnen. Deswegen braucht es aktuell kritischen und geschulten Investigativjournalismus einerseits, der entsprechendes Fact-Checking betreibt und andererseits deutungskompetente Menschen, die die inszenierten Bildwelten entschlüsseln, auf ihre Wirkungsweise hin analysieren und dabei versuchen offenzulegen, welche Botschaften mittransportiert werden sollen.
Diese extreme kognitive Dissonanz ist typisch für den in Echtzeit miterlebten Social Media Krieg: Die berührenden Helden des einen Bildes sind die faschistischen Paramilitärs des anderen Postes, der angeblich antifaschistische Investigativaccount betreibt gleichzeitig pro-russische Propaganda. Und während auf den inszenierten Bildern in den letzten Tagen im Stahlwerk einsam und melancholisch geraucht wird, wird gleichzeitig mit den Gegnern in den sozialen Medien diskutiert. Und einer der Kritiker erweist sich dann plötzlich wieder als abgebrühte pro-russische Konfliktpartei und weist höhnisch auf die baldige Gefangennahme der Soldaten des Asow Regiments hin:
3.
Der Twitter-Account @HerzogRealtor kommentiert Fotografien kaputter Architektur mit sentimental-gruseligem Dokumentarfilmgestus. “A thin veneer of happiness spreads over endless layers of human suffering.” steht in der Twitter-Biographie. Ich stelle mir die Tweets immer vor, als wären sie mit der Stimme Werner Herzogs gelesen.
In eigener Sache:
Ich füge hin und wieder diesen kleinen Absatz hinzu, um darauf hinzuweisen, was – thematisch zu diesem Newsletter passend – aktuell bei mir stattfand und ansteht:
Mit Mascha Jacobs habe ich im aktuellen DEAR READER-Podcast über meinen Roman »Automaton« gesprochen. Es geht um Guilty Pleasures, das Erzählen im Medienwandel und gegenderte Rezeptionshaltungen. Außerdem reden wir über zwei sehr gute New Yorker-Texte von Emily Nussbaum und die Frage, was man kann von diesen Texten über Fernsehserien für die Literatur lernen kann. Hier könnt ihr den Podcast hören.
Im Gespräch mit Vera Linß und Marcus Richter ging es in der Sendung Breitband/ DLF Kultur am 14. Mai um Zyklustracking und Datenschutz in Zeiten sich verschärfender Abtreibungsgesetze. Hier kann man es hören.
Vermutlich könnte man über die schottische Komikerin Eleanor Morton und die Art, wie sie in ihren Clips Literatur verarbeitet, lange Texte schreiben, aber ich freue mich einfach immer, wenn ihr oft viraler Content in meiner Timeline auftaucht und empfehle euch: Anne Brontë beim Bücher signieren, Edgar Allan Poe liest seine Hassmails und JRR Tolkien uns CS Lewis sprechen über Zwerge.
Hier findet ihr einen guten Sisyphus-Tweet, hier einen guten Elon Musk Tweet (über ihn nicht von ihm, of course) und hier einen Tweet, der der Anfang der Geschichte über einen im Wald verlorenen Roboter sein könnte.
Mit diesem guten Video des letzten Dirty Dancing Tanzes zur Melodie der Muppet Show wünsche ich euch einen tanzfreudigen Sonntag. Ihr findet ihr mich in der nächsten Zeit – wie immer – auf Twitter, Instagram oder TikTok.
Vielen Dank für den neuen NL und das erhellende Interview bei DEAR READER! (Der Roman AUTOMATON liegt schon bereit zur Lektüre.) Mir fiel spontan Andrea Arnolds Film RED ROAD ein zu prekärem Frauenjob am Bildschirm, Thriller und Solidarität am Ende. Der könnte sich zu gucken lohnen, auch ohne Präferenz dieses Genres... Wie überhaupt immer Andrea Arnold lohnt.