Über Inselurlaub, Zyklustracker und Kunstrasen
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Seit dem letzten Newsletter erscheint Phoneurie nur noch alle 14 Tage, was nun – wie es zu erwarten war – dazu geführt hat, dass mein Lesezeichenordner randvoll ist mit Dingen und Themen, über die ich gerne schreiben würde. Im New Yorker gab es in dieser Woche einen längeren Artikel über die gesellschaftliche Obsession mit Twitter, der die mittlerweile auch auf der Plattform selbst oft geäußerte Ansicht wiederholt, dass Twitter vor allem ein selbstbezogenes Elitenspektakel sei:
“Twitter should be treated as the spectacle that it appears to be: something that entertains a small and privileged subset of our population, not a de facto town square where the value of institutions and individuals is adjudicated.” (Cal Newport: “Our Misguided Obsession with Twitter.” In: New Yorker, 2.5.2022)
Ich fand die (auf Twitter geäußerte) Anmerkung der Tech-Autorin Jillian C. York ziemlich interessant, dass eine Analyse der Bedeutung von Twitter, die nicht auf die Rolle der Plattform in Gesellschaften außerhalb der USA schaut, vielleicht ein wenig limitiert ist – oder wie sie es nennt: “goddamn navel-gazey.”
1.
Seit Tagen wird das Sylt-Meme auf Twitter rauf und runter gespielt. Mittlerweile gibt es in den etablierten Medien und auf zahlreichen Internetseiten schon die üblichen BestOff-Überblicke mit niedlichen Überschriften wie “So lacht das Netz…” – ich muss also gar keine Auflistung der schönsten und kreativsten Beiträge machen. Stattdessen kann ich darüber nachdenken, warum dieses Meme so erfolgreich ist, während bei anderen Memes schon nach wenigen Stunden eine komplette Übersättigung erreicht wird.
Aber fangen wir am Anfang an: In den Sommermonaten wird es 9€-Bahntickets für den Regionalverkehr geben. Es wird nun also auch für Menschen mit wenig Geld deutlich leichter eine Reise zu unternehmen. Anfang Mai gab es in den Medien einige Berichte darüber, dass sich Sylt vor einem Massenansturm fürchten würde, was natürlich bei vielen auf Häme stieß. Das Sylt-Meme entstand und lief tagelang.
Die Anschlussfähigkeit basiert wahrscheinlich zu großem Teil auf dem im Meme enthaltenen Spott über reiche Menschen, denn Sylt ist stark mit Geld und der Oberschicht assoziiert. Viele Beiträge zu dem Meme spielten dann auch mit eben diesem Gegensatz:
Das ironische Erstürmen der Insel ist auch kein ganz neues Phänomen: Schon 1995 machte sich eine Gruppe Autonomer aus Hamburg auf den Weg nach Sylt. Das frisch eingeführte Wochenendticket wurde damals fleißig genutzt, um als Gruppe mit dem Regionalexpress auf die Insel zu fahren. Man hätte also in der Sylter Stadtverwaltung vielleicht ein wenig strategischer kommunizieren können, um nicht zum zweiten Mal diese Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Besonders die Angst vor Touristenmassen an einem noch immer als exklusiv empfundenen Ort lud natürlich zu zahlreichen Varianten des Memes ein, in denen mit dem Ansturm der Massen auf die Insel gespielt wurde, gerne auch mit dystopischer Konnotation:
Die anhaltende Beliebtheit des Memes bot allen Beteiligten auch genug Zeit, um immer neue Bildbearbeitungen und Varianten zu erdenken. Die Sichtbarkeit wurde zusätzlich verstärkt, als sich die Bahn selbst einschaltete und das Meme aufgriff (ebenso nahmen der Fernsehsender Arte und der Twitteraccount der ZDF Nachrichtensendung heute ironischen Bezug auf das Meme):
Das im Meme enthaltene Narrativ “Wir gegen die Reichen” ist motivierend geug, um das Meme lange am Leben zu halten. Dass dieser Subtext so gut funktioniert, liegt auch daran, dass Sylt als symbolischer Ort so eine wichtige Rolle in der westdeutschen Geschichte gespielt hat:
“Das Paradies dieses Gesamtsystems liegt der Legende nach auf einer Nordseeinsel. Ein freizügiges, spezifisch deutsches Reservat mit Park- und Flugplatz, klaren Geschlechterrollen und sozialen Hierarchien, geschützt vor gesellschaftspolitischen Debatten” (John Reiter: “Springers Paradies – Sylt als Sittengemälde.” In: 54books, 29. November 2021)
Nun ist die Insel also zum Meme geworden und dabei werden auch bekannte literarische Variationen des Sylt-Motivs aufgegriffen, wie die bekannte Szene in Christian Krachts Roman Faserland von 1995:
2.
Die in den späten 1980er Jahren gegründete Menschenrechtsorganisation Memorial ist mittlerweile in Russland verboten und ruft aktuell zu einem digitalen Protest auf. Auf der Website redsquareprotest.com kann man sich zu der virtuellen Menschenmenge auf dem Roten Platz gesellen. Das erklärte Ziel von Memorial ist es, am 9. Mai, dem “Tag des Sieges” über Nazideutschland, eine Million für den Frieden protestierende Menschen auf dem virtuellen Roten Platz zu versammeln, während dort in der Realität eine Militärparade abgehalten wird:
“Zwei prominente Gesichter von MEMORIAL starten mit ihren Avataren die Aktion auf dem Roten Platz: Irina Scherbakowa und Swetlana Gannuschkina, beide mehrfach ausgezeichnet für ihr Engagement, unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz und dem Alternativen Friedensnobelpreis. Ihre digitalen Zwillinge halten ein Protestschild in die Luft und laden so die Welt ein, sich der digitalen Demonstration anzuschließen.” (Memorial: Friedensprotest statt Militärparade: MEMORIAL ruft zur digitalen Demonstration auf dem virtuellen Roten Platz auf)
3.
Seitdem sich die Nachricht verbreitete, dass der Oberste Gerichtshof in den USA daran arbeitet das Recht auf Schwangerschaftsabbruch zu kippen, ging es auch international in den sozialen Medien hoch her – der Blick viieler Nutzer*innen in meiner Timeline ist generell sehr stark auf die USA ausgerichtet. In einigen viral geteilten Tweets riefen Aktivistinnen dazu auf, dass Menschen ihre Zyklus-TrackingApps löschen, weil diese in Zukunft zu einer Strafverfolgung führen könnten. Die dort gespeicherten Daten geben nämlich einen klaren Hinweis auf mögliche Schwangerschaften der Anwender*innen.
Mit der drohenden Veränderung der Rechtslage gerieten also plötzlich Gesundheitsapps in den Fokus, die in großem Ausmaß Gesundheitsdaten der User*innen sammeln. Zyklustrackingapps gehören zu einem Bereich, der allgemein Femtech genannt wird und vor einigen Jahren für Venture Capitalists sehr interessant wurde:
“Catering to a market that market analysts Frost & Sullivan have forecast will be worth $50bn by 2025, femtech is the subset of apps and gadgets geared at enhancing women’s wellbeing.” (“Digital contraceptives and period trackers: the rise of femtech.” In: Guardian, 12.10.2018)
Die vermutlich erfolgreichste Tracking App heißt Flo und hat nach Firmenangaben über 230 Millionen User*innen (in Zeitungsartikeln wird die Zahl mit 100 Millionen meist niedriger angesetzt). Es ist also offensichtlich, dass das digital unterstütze Beobachten des eigenen Zyklus kein Nischenphänomen mehr ist. Die Tracking-Apps sind seit einiger Zeit in das Visier von Datenschützer*innen geraten, die kritische Fragen stellen, was mit den hochsensiblen Daten geschieht. Speziell die App Flo hat wohl in den Jahren von 2016 bis 2019 sensible Daten an Google und Facebook weitergegeben (hier der Link zu einer Beschwerde der Federal Trade Commission aus dem Jahr 2020).
Sensibilität für Datensicherheit und Anonymität im Internet ist auch ein Bildungsprivileg, weswegen die Organisation Digital Defense Fund versucht gut verständliche Anleitungen zu veröffentlichen, wie man ohne größeren digitalen Fingerabdruck eine Abtreibung planen kann.
Dass diese Ängste sehr reale Gründe haben und sich nicht auf eine wie auch immer geartete dystopische Zukunft beziehen hat die Zeitschrift Vice vor einigen Tagen sichtbar gemacht, als sie für nur 160$ bei der Firma SafeGraph die Daten einer Woche von Smartphone-Nutzer*innen gekauft hat, die Planned Parenthood besucht haben. Aus dem Datenset konnten die Journalist*innen die Aufenthaltsdauer in der Einrichtung ablesen, wo die Nutzer*innen herkamen und wohin sie sich nach dem Besuch bewegten – relevante Daten für eine mögliche Strafverfolgung oder für Kopfgeldjäger*innen.
Schon am Tag des Erscheinens des Vice-Artikels wurde auf Twitter ein Thread geteilt, in dem die Führungskräfte von SafeGraph und die zentralen Financiers namentlich und mit Bildern genannt wurden und zusätzlich auf ihre Twitter-Accounts verlinkt wurde:
Der Account @shouldhaveaduck teilt seit Okotber 2020 Videos und Bilder, die sehr nachdrücklich belegen, warum man tatsächlich eine Ente haben sollte – 410.000 Follower*innen träumen mittlerweile von ihrer eigenen Ente.
Hier ist ein guter Tweet mit Rasen-Memes, der sich über die Monokultur und Insektenfeindlichkeit großer gemähter Rasenflächen sorgt. Der Account @ShitLawns sammelt Bilder von Gartenflächen, die mit Kunstrasen oder Plastikhecken gestaltet sind. (Bis vor einigen Tagen wusste ich ehrlich gesagt noch nicht, dass das existiert.)
Mit diesem sehr guten Vogel-Tweet, diesem sehr guten Punk-Hasen und diesem viral geteilten Sonnenliegen-Sehund wünsche ich euch einen schönen Sonntag. In der nächsten Woche findet ihr mich wie immer auf Twitter, und manchmal auch auf Instagram oder TikTok.