Über fühlende Computer, Hitzekarten und Schildkröten
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Anfang Juni habe ich getweeted “Erst lese ich ein AITA über die Disney Hochzeit mit Mäusen statt Essen und danach über das superüble auf 4Chan-Posts trainierte Sprachmodell” und vermutlich war das einfach die konziseste Zusammenfassung meines Internet-Alltags dieser Tage: AI, AI, AI und immer wieder neue Variationen fest etablierter repetetiver Muster (z.B. die AITA – “Am I the Asshole here” – Posts in Reddit). Es ist definitiv noch mehr der “Summer of AI” als in den vergangenen Jahren.
1.
In einem sehr empfehlenswerten MIT Technology Review Artikel mit der Überschrift “The dark secret behind those cute AI-generated animal images” wird dieser Tweet mit folgendem Satz zitiert: “We’re living through the AI space race!” Und es stimmt! Schon im letzten Newsletter vor zwei Wochen schrieb ich über die zu erwartende Omnipräsenz von DALL·E mini Bildern in der Timeline und genau das ist in den letzten Wochen auch eingetreten.
Der Account @weirddalle, der regelmäßig Bilder von besonders faszinierenden DALL·E-Bildern teilt, hat mittlerweile über 750.000 Follower*innen. Und zum Nachtisch gibt es hier und hier noch zwei gute deutschsprachige Threads zum Thema.
2.
Künstliche Intelligenzen, die ein wirkliches Bewusstsein entwickeln, sind ein populärer SciFi-Fiebertraum, der in den letzten Jahren mit dem rasanten Fortschreiten von Entwicklungen auf dem Feld des maschinellen Lernens immer lauter artikuliert wurde. Die konzeptionellen Überlegungen dahinter sind jedoch schon etwas älter: Von Moore’s Law, das – lose zusammengefasst – die kontinuierliche Verbesserung der Geschwindigkeit von Computern beschreibt, inspirierte akzelerationistische Theorien und Gedankenspiele der Zukunftsforschung haben schon in den 1990ern zum Konzept der technologischen Singularität geführt.
Mit diesem mittlerweile populär gewordenen Begriff “Singularity” (technologische Singularität) ist die Annahme gemeint, dass irgendwann in der Zukunft die künstliche Intelligenz eine menschliche Intelligenz übertreffen wird. Die entstehende Superintelligenz würde dann – so ist das Angst- oder Hoffnungsszenario – entweder zum Auslöschen der Menschheit oder zur Erfindung von Möglichkeiten zum Erlangen einer menschlichen Unsterblichkeit führen. Solche technologisch-eschatologischen Gedankenmodelle stießen – wie sollte es auch anders sein – besonders im Silicon Valley auf Resonanz und wurden von Cory Doctorow und Charles Stross bereits 2012 in dem Roman “The Rapture of the Nerds” (Die Entrückung der Nerds) parodiert.
An diese Hoffnung auf eine technologisch zu erreichende Unsterblichkeit oder die Furcht vor einem durch Technologie eingeleiteten Ende der Welt, das analog zu religiösen Vorastellungen der Apokalypse gelesen werden kann, muss ich immer denken, wenn wieder Neuigkeiten zirkulieren, dass eine AI einen entscheidenden Schritt zur Bewusstwerdung gemacht habe. In diesen Geschichten steckt – wie in anderen religiösen oder quasi-religiösen Erzählungen – einiges drin, über unsere Wünsche, Ängste und Ideen von Zukunft.
Mit diesem Bericht eines Google-Ingenieurs über eine angeblich bewusste AI glühten auch die Timelines mit Spekulationen, Witzen und einigen wirklich klugen Analysen und Gedanken aus verschiedenen Perspektiven (die ich hier für alle Interessierten nur verlinke). Neben Fragen nach den technischen Hintergründen finde ich besonders den kulturanalytischen Blick auf aktuelle Ängste interessant, wie beispielsweise in diesen Überlegungen von Monica Byrne, die das Motiv einer bewusstwerdenden AI als Angstgegner in den Kontext aktueller gesellschaftlicher Transformationen stellt:
“I want to draw especial attention to the treatment of AI—artificial intelligence—in these narratives. Think of Ex Machina or Blade Runner. I spoke at TED two years in a row, and one year, there were back-to-back talks about whether or not AI was going to evolve out of control and “kill us all.” I realized that that scenario is just something I have never been afraid of. And at the same moment, I noticed that the people who are terrified of machine super-intelligence are almost exclusively white men. I don’t think anxiety about AI is really about AI at all. I think it’s certain white men’s displaced anxiety upon realizing that women and people of color have, and have always had, sentience, and are beginning to act on it on scales that they’re unprepared for. There’s a reason that AI is almost exclusively gendered as female, in fiction and in life. There’s a reason they’re almost exclusively in service positions, in fiction and in life. I’m not worried about how we’re going to treat AI some distant day, I’m worried about how we treat other humans, now, today, all over the world, far worse than anything that’s depicted in AI movies.” (Monica Byrne: “Halbert W. Hall Speaker’s Series on Science Fiction and Fantasy, Texas A&M University” In: Instructions for the Age of Emergency, Februar, 2018.)
3.
Ich habe diesen Tweet gesehen und darüber nachgedacht, wieviel unseres politischen Diskurses und unserer politischen Rezeption mittlerweile durch die visuelle Logik von Memes geleitet werden. Es ist auf jeden Fall spannend, wie die bloße Gegenüberstellung des superpopulären Memes und der aktuellen Fotografie in diesem Fall einen ziemlich weiten Bedeutungskontext eröffnet.
4.
Im letzten Newsletter schrieb ich über den viralen “Was hat Cristian Lindner” machen lassen Thread, der mittlerweile zum Ausgangspunkt für ein superlustiges Meme geworden ist, was den Streisand-Effekt des Ausgangspunktes eventuell sogar noch erhöht. Zumindest muss ich bei jedem Meme-Beitrag auch an Lindners Schönheitsoperationen denken.
5.
Ich habe für dieses Wochenende zum ersten Mal bewusst Hitze-Warnungen auf Google Maps gesehen und auf Twitter trendet am Samstag-Morgen bereits #Hitze und #Dachgeschoss mit vielen galgenhumorigen Tweets aus denen teilweise auch richtige Angst vor den angekündigten Temperaturen und ihren Effekt auf die Wohnungen direkt unter dem Dach herauszulesen ist. Unter dem #Hitze Hashtag finden sich auch zahlreiche Klimakatastrophenleugner-Tweets und es scheint mittlerweile im Querdenk-Milieu eine beliebte Theorie zu sein die Deklarierung von Hitzetoten als Vertuschung für die nun angeblich aus Impfungen resultierenden Todesfälle zu deuten.
Ich denke schon seit einer Weile darüber nach, dass die ständig in den Timelines auftauchenden Screenshots von Karten, die extreme Hitze visualisieren, eine Art Ikonographie der Klimakatastrophe in den sozialen Medien sind. In diesen Tagen ist leider sehr sehr viel rot und dunkelrot auf Karten zu sehen. Hier ein älteres Beispiel, was ich bereits im Mai abgespeichert habe, vermutlich habt ihr mittlerweile selbst schon viele Tweets gesehen:
In eigener Sache:
Aktuell bin ich auf dem zweiten Teil meiner Lesereise unterwegs, vielleicht treffen wir uns irgendwo!? Mehr Informationen zu den einzelnen Veranstaltungen gibt es unter diesem Link.
Unter diesem Tweet gab es ein Twitter-Echtzeit-Abenteuer mit der Mission zwei ineinander festklemmende Schalen zu trennen, unzählige Tipps, viele Versuche und über 35.000 Retweets später gab es ein … (mir wurde gesagt, dass Spoiler unbeliebt seien). Hier ist eine Art visuelle Meditation mit einem winzigen Spannungsbogen, einem Baumstamm und vielen Schildkröten – empfehlenswert!
Die FanFiction Website AO3 war in der letzten Woche kurz Offline und die Reaktionen darauf waren – wie zu erwarten – sehr sehr witzig.
Mit diesem sehr guten literarischen Tweet über Begegnungen mit Bienen, Wespen und Hummeln wünsche ich euch einen abkühlungsreichen Sonntag mit viel Eis. Ihr findet ihr mich in der nächsten Zeit – wie immer – auf Twitter, Instagram oder TikTok.