Über Fußballbilder, Chatbots und Berggeister
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Die Twitter-Spirale dreht sich weiter, Menschen sind auf Mastodon angekommen oder auch schon wieder zu Post oder Hive weitergezogen – neue Social Media Plattformen, die auch wieder alle ihre eigenen Probleme mit sich bringen. Parallel läuft die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar, die trotz einiger Resonanz doch deutlich weniger in meinen Timelines stattfindet als angenommen. In diesem Newsletter wird sie dennoch auftauchen, weil sie ein gutes Beispiel geliefert hat, für eine Bildpolitik, die sich der Dynamiken von Social Media entweder überhaupt nicht oder ganz extrem bewusst ist, man weiß das gegenwärtig einfach nicht mehr so genau.
1.
Die deutsche Nationalmannschaft wollte sich zu der One Love-Armbinden Situation bei der WM in Katar verhalten, indem sie bei ihrem ersten Spiel ein Gruppenbild produziert haben, bei dem sich die Mannschaftsmitgieder den Mund zuhielten (als Hinweis darauf, wie sehr sie sich von der FIFA zensiert fühlen). Über Sinn und Zweck dieser ziemlich holzhammerigen Symbolaktion ist an vielen Orten berufeneres geschrieben worden, ich werde darauf also in diesem Newsletter nicht eingehen. Mich überraschte jedoch der sehr bewusst gewählte Bildaufbau, der zu Fotografien führte, die sich hervorragend als Material für Memes einsetzen lassen. Strategisch ist die Wahl sich auf diese Weise fotografieren zu lassen analog zu Politiker*innen, die sich mit einem weißen Blatt fotografieren lassen und so quasi automatisch unzählige Photoshop-Bearbeitungen inspirieren.
Die ungnädige Lesart wäre der deutschen Nationalmannschaft hier ungeschickte Pressearbeit zu unterstellen, denn das Bild hat zu unzähligen spöttischen bis kritischen Posts eingeladen (darunter einige, die explizit den Rassismus oder Sexismus des deutschen Fußballs zum Inhalt haben). Folgt man jedoch der Überzeugung, nach der Sichtbarkeit in den sozialen Medien generell gut ist und deswegen jedes Meme ein gutes Meme ist, dann muss man dieses Bild als ziemlich erfolgreichen Coup betrachten. Denn ganz unabhängig von der konkreten Botschaft im Kontext der WM wird es uns vermutlich als Memematerial noch eine Weile begleiten.
2.
Ende des Jahres veröffentlicht Spotify die Auswertung der User*innendaten des vergangenen Jahres und hat damit in den letzten Jahren eines der zentralen Ereignisse des Online-Jahreskreises gestiftet. Es gibt wiederkehrende Events, die jedes Jahr erneut für überfließende Timelines sorgen. Dazu gehört beispielsweise der Eurovision Song Contest aber eben auch Spotify Wrapped. Ende November konnte man auch in diesem Jahr den Spotify Wrapped Resultaten und mehr oder weniger inspirierten Kommentaren zur Datenauswertung und Bildbearbeitungen, bei denen Spotify Wrapped zum Ausgangspunkt für Humor genommen wird, kaum entkommen.
(Ich persönlich mag übrigens am liebsten die Wrapped Posts von Menschen, die exzessiv Brown oder White Noise hören (Trockner, Flugzeuge, Windrauschen) oder sich eindeutig ihren Account mit kleinen Kindern teilen.)
3.
Wir haben in diesem AI-Jahr nun schon Illustration und Grafik Design (as we know it) in großen Tönen verabschiedet, und nun endet 2022 auf einer Variation des seit einigen Jahren beliebten Klassikers: “Software / AI / Computer haben den Schulaufsatz / die Hausarbeit / den Journalismus getötet.” Es ist ein interessanter Reflex, dass immer sofort die größten kulturellen Verschiebungen und Apokalypsen heraufbeschworen werden, wenn ein neues interessantes Tool präsentiert wird.
Neue AI Tools verbreiten sich aktuell fast immer viral, weil sie einerseits Erstaunen auslösen und andererseits zu eigenen Spielereien einladen. 2022 haben wir dieses Phänomen bei den mit AIs wie Midjourney, DALL-E 2 oder Stable Diffusion generierte Bildern gesehen, die einen eigenen Humor kreiiert und für Erstaunen gesorgt haben. (Schon 2021 und 2020 gab es ähnliche Phänomene von FaceApp bis Wombo). Und aktuell ist also der GPT-3 Chatbot von OpenAi im Fokus der Gruselfaszination und kreativen Begeisterung, sodass irgendwann auch die OpenAI Server in die Knie ging, weil alle den Chatbot ausprobieren wollten.
Nach der initialen Begeisterung und dem beginnenden Nachdenken, was die neuen Tools mit etablierten Berufsbildern machen wird, beginnt oft eine Phase der ersten Anwendungen, in denen sich das Verhältnis zum Computer als Sidekick kreativer und geistiger Arbeit normalisiert. Im Bereich der mit Texteingabe generierten Bilder wurde beispielsweise rasch klar, dass die Formulierung der Prompts, mit denen die AIs Bilder erzeugen, eine eigene Sprachkunstfertigkeit voraussetzt und ebenfalls eine kreative Tätigkeit ist.
In Bezug auf kreative Prompts musste ich übrigens sehr lachen, als eine Person den GPT-3 Chatbot einen Bibelvers hat generieren lassen, der erklärt, wie man ein Erdnussbuttersandwich von einer VCR abbekommt. Mit der permanenten Verbesserung von Textgenerierungstools wird sich langsam aber sicher wohl auch unser Verhältnis zum geschriebenen Wort verändern und damit vermutlich tatsächlich auch das Konzept Schulaufsatz oder Hausarbeit.
Aus kreativer Sicht wird es aktuell besonders dann spannend, wenn Crossover verschiedener Netzwerke passieren, wir also Texte generieren, mit denen dann Bilder generiert werden und andersherum. Wie immer bei allen AI-Trends und Begeisterungen wird jedoch auch beim GPT-3 Chatbot noch zu wenig über die der AI zu Grunde liegenden Datensätze nachgedacht und die Frage, welche Realität durch die Netzwerke reproduziert wird.
Ob GPT-3 in der aktuellen Ausprägung das Ende der Literatur bedeutet, kann vielleicht der Chatbot am besten selbst beantworten, also habe ich ihn direkt gefragt (vielleicht sollte man generell mehr anfangen AIs zu interviewen):
[Wer übrigens nachschauen möchte, ob eigene Bilder in Datensätzen für das Training von AIs verwendet wurden, kann das hier tun. Über mit AI generierte Literatur und die Menschen hinter den Datensätzen habe ich hier geschrieben.]
In eigener Sache:
Ich habe Ende November auf einem von der Akademie der Künste, Berlin und der Bundeskunsthalle in Bonn veranstalteten Kongress zur Zukunft der Kritik an einem Podium teilgenommen. In einem danach veröffentlichten Artikel in der Süddeutschen Zeitung über den Kongress wurde ich folgenderweise zitiert: “"Ein Tweet kann genauso viel über ein Buch sagen wie eine klassische Rezension", sagte die Literaturwissenschaftlerin Berit Glanz. Es ist leicht, das zu proklamieren, aber man hätte es gerne einmal vorgeführt bekommen.”
Das ist nun natürlich ein toller Anlass gewesen auf Twitter mal ganz konkret nachzufragen, ob sich Menschen an Tweets, TikTok Clips, Memes etc erinnern, bei denen sich ihnen eine neue Dimensionen auf ein Kunstwerk (Roman, Film, Album etc.) erschlossen hat oder die eine Kritik perfekt ausgedrückt haben. Die Antworten sind mittlerweile zahlreich, man kann sich also jetzt gut selbst eine Meinung bilden, noch Beispiele hinzufügen oder Kritik äußern.
Ich habe in diesem Newsletter ja schon öfter darüber geschrieben, dass Kurzpitches, verdichtete Romanideen und Beschreibungen nicht-existenter Filme eines der schönsten Twitter-Genres sind. Hier gibt es ein weiteres Beispiel von Ende November, als zahlreiche Star Wars Movie-Pitches in einem Tweet gesammelt wurden.
Nostalgie ist eine Timelinewährung und deswegen erreichen solche Tweets, wie dieser hier, regelmäßig viele tausend Favs und ein ermüdetes Kopfschütteln von mir. Im Gegensatz zu diesem Video einer naturwissenschaftlich erklärbaren Geistererscheinung, bei dem ich mich sehr gruselte.
Mit diesem sehr guten Take That Tweet, wünsche ich euch einen schönen Dezembersonntag. Ihr findet mich wie immer auf Twitter, Mastodon, Instagram oder TikTok.