Über die Mona Lisa, sprechende Berge und TikTok-Horror
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Eigentlich wollte ich diesen Newsletter mit meiner kürzlich erworbenen Cookie Clicker-Sucht einleiten. Das Handy-Spiel ist nämlich so ein schönes Beipspiel für ein ziemlich sinnloses Spiel, das dennoch eine extreme Anziehungskraft entwickelt (ich kümmere ich mich um ein Keksimperium, das nur mit meinen Clicks anwächst). Nun ist jedoch in den letzten zwei Wochen soviel in den Timelines passiert, dass ich den Fokus lieber auf ernstere Themen richten möchte.
Gerade in den letzten Tagen hat sich nämlich wieder einmal gezeigt, warum MeToo auch Phänomen und Resultat der sozialen Medien ist. Es keine einfache Aufgabe die Opfer von sexualisierter Gewalt zu vernetzen, sodass sie gemeinsam nicht mehr überhörbar sind. Und genau bei diesen Solidarisierungsbewegungen haben sich die sozialen Medien in den letzten Jahren immer wieder bewährt. Es bedarf für die Entstehung eines solchen Momentums jedoch immer wieder eine Person, die den Mut aufbringt unter hohem persönlichem Risiko die Stimme zu erheben:
1.
Aktuell bekommt auf TikTok ein neues Format viel Aufmerksamkeit, in dem AI generierte und ziemlich unheimlich lieblich wirkende Kinder mit unnatürlichen Piepsstimmen davon erzählten, wie sie Opfer realer Verbrechen geworden sind. Die artifiziellen Kinder erzählen unglaublich grausame Fälle von Vernachlässigung und Gewalt nach. Zentral ist in der Aufmachung dieser Videos, dass die Wahrheit des Berichteten betont wird. Die Clips gehören also auch zum True Crime Genre, das seit einigen Jahren immer obszönere Formen annimmt. Ich hatte schon begonnen einen Abschnitt über ein verstörendes neues TikTok-Format zu schreiben, als dieser Artikel des Rolling Stones in meiner Timeline auftauchte, der sich mit dem True Crime Aspekt dieser Clips sehr kritisch ausienandersetzt:
The proliferation of these AI true-crime victim videos on TikTok is the latest ethical question to be raised by the immense popularity of the true-crime genre in general. Though documentaries like The Jinx and Making a Murderer and podcasts like Crime Junkie and My Favorite Murder have garnered immense cult followings, many critics of the genre have questioned the ethical implications of audiences consuming the real-life stories of horrific assaults and murders as pure entertainment, with the rise of armchair sleuths and true-crime obsessives potentially retraumatizing loved ones of victims. (AI Deepfakes of True-Crime Victims Are a Waking Nightmare, Rolling Stone, 30.5.2023)
In diesen Videos überlagern sich mehrere Gegenwartsphänomene: True Crime als Trend, der durch das Internet nochmal ganz neue Verwertungsschleifen durchläuft; der aktuelle Einsatz AI generierter Clips, mit denen Erzählinhalte illustriert werden und die in ihrer spezifischen Ästhetik extrem unheimlich wirken können und außerdem der Trend zu TikTok-Clips, in denen Narrationen mit automatisierter Stimme vorgetragen und mit Videoaufnahmen unterlegt werden.
Zu diesem Format gehören die gruseligen Kindervideos, aber auch harmlosere Varianten, in denen beispielsweise in mehrteiligen Clips ganze Redditposts automatisiert vorgelesen werden, während im Hintergrund in Minecraft gebaut wird. Für mich fühlen sich diese Videos an, als würde man mit einem Roboter ein Multiplayer-Game spielen während die Maschine parallel eine Geschichte erzählt. Ich bin mir sicher, dass sich in diesen Videos einiges zur Zukunft des Lesens finden lässt und zur Rezeption von Geschichten in Times of TikTok. Dass dabei schon vorher beliebte ausbeuterische Erzählformate wie True Crime auch ihren Weg in diese Clips finden, ist da eigentlich nur logisch.
2.
Seit einer Weile entsteht immer mehr Clickbait, der entweder auf AI generiertem Content aufbaut oder sich im weitesten Sinne mit AI befasst. AI ist ein Trendtthema und das haben auch Accounts verstanden, die mit Bezug zu diesen Themen ein rasches Wachstum anstreben. Leider wird das Gespräch über AI deswegen erheblich flacher, sodass immer mehr gute Leute das gesamte Themenfeld vermeiden, um sich nicht in der Hypemaschine zu verfangen. (Die These, dass AI das neue Crypto ist, stimmt meiner Meinung nach.)
Als Sponsored Posts in die Timelines gedrückte Tweets, in denen die Zukunft von Podcasts mit AI Filtern als Gespräch von Bill Gates und Sokrates imaginiert wird oder generierte Selfies historischer Figuren präsentiert werden, zeigen wie gut sich das Thema mittlerweile für auf Sichtbarkeit und Click ausgelegtes Content Farming eignet – die neuen Cryptobros sind AI-Dudes.
Ein Beispiel für diese Art Posts, in dem behauptet wird, dass AI authentische Bildhintergründe generieren könne, hat in der letzten Woche amüsante Reaktionen verursacht:
Was diese Beispiele jedoch zeigen: Der Status von Kunstwerken, vom Verhältnis von Abbildung und Realität und dem epistemologischen Wert AI generierter Bildern ist das zentrale Theme dieser Monate und wir brauchen dringend mehr klügere Stimmen dazu. (Passend dazu: Hier findet sich ein guter Text von Roland Meyer zum Thema Bilgeneration.)
3.
Ich habe mich sehr über diesen viralen Tweet gefreut, der von Mt. St. Helens formuliert wurde. Das liegt nicht nur daran, dass ich einen Soft Spot für Washington State habe (wo ich mal eine Weile gelebt habe), sondern daran, dass ich gerne Tweets lese, die aus der Perspektive nicht-belebter Orte, Gegenstände usw. formuliert sind.
Sprechende Berge und Vulkane in der Timeline sind dabei selbstverständlich am allerbesten, weil auf isländisch Echo „bergmál“ heißt, was sich wortwörtlich als „Sprache der Berge“ übersetzen lässt. Der virale Mt. St. Helen Tweet hat deswegen auch einer alten Twitter-Fehde zweier Vulkane wieder etwas Aufmerksamkeit verschafft:
Streit und Beef ziehen in den sozialen Medien Clicks und Aufmerksamkeit nach sich. Wo wäre diese polarisierende Aufmerksamkeit besser aufgehoben als bei einem Kampf zweier Vulkane miteinander. Wer lieber andere Konflikte mag, kann auch zuschauen, wie sich der Springbrunnen und die Kirschblüten der University of Washington darüber streiten, wer von ihnen für Menschen attraktiver ist – Mt. Rainier hat aber schon ein Machtwort gesprochen.
In eigener Sache:
In der aktuellen Podcastfolge von Lakonisch Elegant meets 54books haben wir Ende Mai über Bigolas Dickolas und über Meme-Bücher allgemein gesprochen – Hören kann man das hier.
In den letzten Tagen haben viele Menschen im Internet eine sich viral ausbreitende Nachricht gesehen, die besagte, dass eine AI-Drohne sich in einer Simulation gegen den Menschen gewandt habe, der sie eigentlich kontrollieren sollte. Wenig überraschend war diese Nachricht wohl falsch und grandios übertrieben. Es ist jedoch wirklich symptomatisch für den aktuellen AI-Diskurs, dass sich News die Ängste und Klischees bestätigen so stark verbreiten. Am besten atmen wir alle einmal durch und konzentrieren uns auf die realistischen aktuellen Risiken von AI, die sind aber vermutlich zu langweilig und erfüllen nicht die Blockbustervariante menschlicher Maschinenangst.
Mit diesem Video von Pinguinen, die sich in fünffacher Geschwindigkeit bewegen, wünsche ich euch einen schönen Sonntag. Ihr findet mich wie immer auf Twitter, Mastodon, Instagram oder TikTok. Für längere Gespräche über AI, Tech, Bücher und das Schreiben bin ich aktuell häufig im 54books-Discord zu finden und freue mich euch da zu treffen.