Herzlich Willkommen zur 74. Ausgabe dieses Newsletters!
Phoneurie wird mittlerweile von 2369 Menschen abonniert und 52 zahlende Subscriber*innen unterstützen diesen Newsletter regelmäßig. Alle Leser*innen, die meine Arbeit an diesem Newsletter weiter ermöglichen wollen und können, haben hier die Möglichkeit zahlende Subscriber*innen zu werden:
Ihr könnt mir natürlich auch gerne via Paypal eine Primel spendieren, wenn euch dieser Newsletter eine Freude macht.
Ich bin im Juni viele Stunden auf dem zweiten Teil meiner Automaton-Lesereise durch Deutschland gefahren, habe unterschiedlichste Orte besucht und mit vielen Menschen gesprochen. Da in meinem Roman die Verbindung und Überschneidung von virtueller und realer Welt eine wichtige Rolle spielt, ging es auch immer wieder um virtuelle Freundschaft, Gefahren und Risiken von AI und die Frage nach der Rolle des Internets auf dem Weg zu politischer Solidarisierung.
Während ich also Offline viel über neue Technologien sprach und diskutierte, habe ich Online interessiert beobachtet, wie rasch sich die DALL·E mini Ästhetik (Text zu Bild AI) weiter durchgesetzt hat. Aktuell scheint es mir immer noch zentral, dass in den Screenshots immer der Textinput mit abgebildet wird, da Bilder ohne dieses Zusammenwirken von Text und Bild noch nicht interessant und gut genug sind. Aber auch das wird sich vermutlich sehr viel rascher ändern, als wir es uns momentan vorstellen können. Ich bin gespannt, was diese Technologie für das Feld der Illustration bedeuten wird und wann das erste AI-Bilderbuch auf den deutschsprachigen Markt kommt.
Die nächsten drei Wochen werde ich im Sommerurlaub sein, das bedeutet am 17. Juli gibt es nur einen kleinen Sommernewsletter und wir lesen uns dann mit dem regulären Newsletter am Ende des Monats wieder.
1.
In den USA sind in den letzten Tagen einige schlimme Entscheidungen vom Supreme Court getroffen worden, darunter das Kippen der Gerichtsentscheidung Roe vs. Wade, die seit 1973 Abtreibungen ermöglicht hat. Eine beliebte Reaktion der extremen religiösen Rechten auf die Proteste für das Recht auf Abtreibung ist die ziemlich zynische Erklärung, dass man ja die ungewollten Babies adoptieren würde. Ein auf Twitter geteiltes Bild von einem solchen Protestschild war der Ausgangspunkt für ein erfolgreiches Meme (das abgebildete Paar ist übrigens, wie zu erwarten war, noch schlimmer als man aufgrund des Bildes annehmen konnte).
Das “We will adopt your baby”- / ”I will have your Baby”-Meme lässt sich sicher auch als Ventilfuntkion für die tiefe politische Enttäuschung deuten, es ist ir in den letzten Tagen wieder und wieder begegnet.
2.
In der letzten Woche zirkulierten zahlreiche Bilder von Aufnahmesituationen aus dem neuen Greta Gerwig Barbie-Film, der von vielen (unter anderem mir) mit Spannung erwartet wird. Ich finde erstaunlich wie unglaublich für Memes geeignet die Aufnahmen bereits sind, was vielleicht an der Superkombination von Camp und Nostalgie liegt. Ich bin ziemlich sicher, dass uns Bilder aus diesem Film noch weit in die Zukunft als Memes erfreuen werden und wir noch viel mehr virale Takes mit Meinungen und Punclines zum Film sehen werden.
3.
Welt-Chefredakteur und erfolgreicher Outrage-Farmer Ulf Poschardt hat letzte Woche schon wieder für ein gutes Meme gesorgt – vielleicht sollt man einfach nie mit “Grumpy Old Dude”-Gesicht auf Sachen zeigen?! Zumindest erinnerte sowohl die Geste an ein anderes erfolgreiches Meme (siehe Screenshot) als auch an das Gemälde “Die Erschaffung Adams” von Michelangelo. Der ausgestreckte Zeigefinger ist so eine pointierte Geste, dass er im visuellen Gedächtnis bei vielen Menschen soviele weitere Bilder aufruft, dass Memes mit dieser Geste sich quasi selbst befüttern.
4.
Politische Großereignisse und die dort entstehenden Fotos sind immer wieder Ausgansgpunkt für Memes, genau wie Bilder von roten Teppichen und Bilder von Menschen, die selbst zum Meme geworden sind (Ulf P., Elon Musk, Spitzenpolitiker*innen usw.). Der G7-Gipfel in Bayern hat diesbezüglich nicht enttäuscht, was vielleicht auch daran liegt, dass soviele der Beteiligten seit Monaten und Jahren Futter für Memes liefern und deswegen diese Gipfel eine Art Mega-Meme-Event sind.
5.
Ich beobachte schon seit einer Weile die Popularität von WhatsAppChat-Geschichten auf TikTok. Artikelsammlungen mit unzähligen Screenshots von lustigen oder absurden Chat-Dialogen mit Eltern, Ex-Partner*innen oder Zufallsbekanntschaften sind schon länger beliebt, aber während dieses Genre mit der implizit angenommen Authentizität der Dialoge spielt, sind die WhatsApp-Stories als sichtbar inszenierte und teilweise auch explizit so markierte Clips klar fiktional.
Die populären Clips entsprechen letztlich der Idee von Desktop-Filmen, die eine gesamte Filmhandlung über den Bildschirm eines Computers oder eines Smartphones erzählen und vor ungefähr zehn Jahren entstanden sind. Während in den Desktop-Filmen aber oft mit Videochatsequenzen gespielt wird, also auch Menschen audiovisuell inszeniert werden, sind die WhatsApp-Stories fast immer stark textbasiert. Sie bilden den Verlauf eines Chats nach, in dem nur manchmal auch noch ein Bild eingefügt wird.
Die Stories handeln beispielsweise von Liebes- und Beziehungsdramen (hier ein Beispiel mit 2,9 Millionen Views) oder ziemlich harmlosen Liebesgeschichten (hier ein Account mit einer WhatsApp-Story in 7 Teilen). Es werden Witze als Chat-Dialoge inszeniert und auch mehrteilige Horror-Stories sind sehr beliebt. Ich frage mich, ob diese visualisierten fiktiven Chatverläufe nicht tatsächlich ein eher literarisches als ein filmisches Genre sind und inwieweit hier vielleicht gerade eine wirklich neue Form von Literatur – der Chatverlauf als Dramentext – entsteht?!
In eigener Sache:
Im Literaturhaus Berlin haben Francis Seeck und ich über Klassismus im digitalen Zeitalter und unsere Bücher gesprochen und daraus ist ein Radiofeature geworden, das man hier anhören kann:
“Wie von der Armut erzählen, ohne sie denunzieren? Wie gegen prekäre Verhältnisse im Digitalen wie im Analogen kämpfen? Wie der Dystopie entkommen, dem „alles wird immer schlechter“? Ein Gespräch über Roman und Streitschrift, Solidarität und Klassismus.”
In der vergangenen Woche hat Bernd das Brot einen viralen Auftritt hingelegt, als der sowieso immer empfehlenswerte Account @depthsofwiki einen Ausschnitt aus dem englischspachigen Artikel über Bernd geteilt hat.
Manchmal gibt es auf Twitter diese langen Threads, in denen jemand auf spannende Weise Einblick in eine Leidenschaft, ein Forschungsinteresse oder ein Spezialwissen gibt: Hier am Beispiel des Wolpertingers.
Es ist beinahe schon tragikomisch, wie mittlerweile unter so vielen viralen Tweets, in denen schon länger erfolgreiche Memes aus Message Board auf Twitter verbreitet/recycelt werden, die Werbeschleife für Produkte beginnt. Ob irgendwer wirklich von einem solchen Werbe-Druko unter einem viralen Tweet inspiriert schon einmal etwas gekauft hat? Hier habe ich ein Beispiel für das Phänomen: Viraler Barbie-Film-Meme Tweet, 270k+ Retweets, dann zahlreiche Tweets mit Angeboten für Sexspielzeuge. Ich würde wirklich gerne mal einen längeren Text über dieses Phänomen lesen, also das Geschäftsmodell, das hinter solchen Accounts steckt.
Mit diesem sehr guten Würstchen-Grill-Lifehack wünsche ich euch einen Sonntag mit Sommerregen und kaltem Abendwind. Ihr findet ihr mich in der Zeit nach meinem Urlaub – wie immer – auf Twitter, Instagram oder TikTok.
Interessant die transmedialen WhatsApp-Videos. Eine historische Referenz dazu wäre neben den Dektop-Filmen der 2010er Jahre Michael Snows Text-Film "So Is This" (1982), nur dass die Chat-Dialoge auf TikTok popkulturell statt avantgardistisch anmuten.