Über Apfelstrudel, russisches Roulette und Schwimmbecken
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Dies ist nun mein erster Newsletter aus Reykjavík, hoffentlich kann ich noch viele weitere schreiben. Wie bei meinem letzten Newsletter vor der Pause sitze ich noch zwischen Kisten, Kartons und nicht zusammengebauten Möbeln, aber zumindest bin ich gut auf Island angekommen.
Passend zum Ende der Sommerpause trendete auf Twitter erst mehrere Tage lang das Thema Bratwurst und einige Tage später ging es dann um Apfelstrudel. Neben dieser Twitter-Speisekarte geht es zwischen Wahlkampf, Olympia und vierter Delta-Welle aktuell in den sozialen Medien sowieso ganz schön zu.
1.
Die olympischen Spiele in Japan hatten in ihrer medialen Verwertung schon einiges zu bieten, von Aufregern zu berührenden Geschichten, von Überraschungserfolgen zu handfesten Skandalen. Darüber hinaus sind Sportgroßereignisse oft eine gute Quelle von Bildern, die zu Memes werden oder von anderen Inhalten, die viral geteilt werden.
Bilder aus den Auftritten von Synchronschwimmerinnen, die sich oft durch ausgesprochen übertriebene Gesichtsausdrücke auszeichnen, sind schon lange beliebter Internetcontent. Bei diesen olympischen Spielen luden besonders die eindrucksvollen Bilder des russischen Synchronschwimmduos mit Spinnenthema zur viralen Verbreitung und zur Nutzung als Meme ein.
2.
Vor zwei Jahren hat Brittany Tomlinson auf TikTok ein Video geteilt, in dem sie das erste Mal mit gemischten Reaktionen eine Cherry-Cola mit Kombucha-Geschmack probiert. Das Video verbreitete sich viral und ihre sehr impressiven Gesichtsausdrücke wurden zu einem extrem beliebten Meme, das ähnlich funktioniert wie das bekannte Drake-Meme. Interessant an diesem Meme ist, dass es zu einem Zeitpunkt entstand, als Memes als berichtenswertes Phänomen bereits in den Mainstream-Medien fest etabliert waren. Interessanterweise gibt es deswegen zu Broski als “Kombucha-Girl” unzählige Beiträge, Videos, Interviews, Reportagen zum Thema “Leben nach einem viralen Meme.”
3.
In der letzten Woche hat mehrere Tage hintereinander das Wort Apfelstrudel getrendet und es gab eine regelrechte Explosion an Tweets zum Thema. Begonnen hat das Ganze mit einem Thread über die angeblich Begegnung der Erzählerin mit einem jungen Paar vor dem Kühlregal im Rewe. In dieser Geschichte schlägt der junge Mann vor einen Apfelstrudel zu kaufen, weil er dabei an seine Großmutter denkt, aber die Freundin lehnt das Gebäck ab, da sie es zu ungesund und fetthaltig findet. Die Ich-Erzählerin des Tweets wendet sich daraufhin tröstend an den Mann, der feststellt, dass seine böse auf Schlankheit bedachte Freundin nicht die Richtige für ihn ist. Die kleine Fabel mit ausgesprochen stereotypen Figuren, extrem kitschigen Wendungen und einer abschließenden Moral wurde rasch viral geteilt.
Die Glattheit und schmalzige Ausgestaltung des Berichteten legt jedoch zumindest Zweifel an der Faktualität des Erzählten nah. Besonders gut ziehen bei solchen Twitter-Miniaturen die typischen Nostalgie-Themen (Kindheitserinnerungen, das Essen von früher, die heile Welt von damals) oder kitschige Momente mit Kalenderspruchmoral, gerne mit dem Personal rührseliger Fernsehfilme ausgestattet, mit Armutskitsch oder lebensbejahender Gefühligkeit angesichts von großen Krisen. Angebliche Alltagsanekdoten und Erzählungen, die so übertrieben oder auf eine Pointe hin geschrieben sind, dass ihr Realitätsstatus zumindest zweifelhaft wirkt, streuen auf Twitter oft sehr weit. Dies liegt auch daran, dass solche Erzählungen eine mehrdimensionale Rezeption zulassen, die dann zur Verbreitung beiträgt, wie man am Apfelstrudel-Thread gut zeigen kann:
Akzeptanz des Geschrieben als faktual und berührt-affirmative Reaktion (inkl. Kritik an aller Skepsis dem Erzählten gegenüber).
Kritische Auseinandersetzung mit dem Geschriebenen, dessen Faktualität aber nicht hinterfragt wird
Kritisches Hinterfragen des Erzählten und damit einhergehend eine Selbstpositionierung als medienkritische Person
Indifferenz gegenüber dem Status des Erzählten, solange die Geschichte gut ist oder die Moral legitim
Spott, der dann oft memetisch produktiv wird und zu ausgesprochen kreativer Auseinandersetzung mit dem Ausgangsmaterial führt. Hierbei wird eine Art spielerischer Meta-Rezeption eingeleitet, die dann widerum die Viralität des Ausgangsmaterials befeuert.
Zum fünften Punkt gab es zahlreiche Beispiele, unter Anderem eine memetische Aneignung des Erzählmusters, bei der vor Allem der zitierte Satz “neben mir ein Pärchen” immer wieder aufgeriffen wurde.
Die Erzählweise des initialen Threads wurde vielfach parodiert, das Thema Apfelstrudel mit dem Film American Pie vermischt und Verweise auf die filmhafte Kitschigkeit des Erzählten gemacht (“"Apfelstrudel - Sie ist nicht die Richtige" (Kinostart: 26. November 2021)…“). Der Erzählperspektive des initialen Threads wurden neue Erzählperspektiven anderer Personen im Supermarkt hinzugefügt:
In der für erfolgreiche Memes typischen Vermischung verschiedener memetischer Verfahren wurde die Apfelstrudel-Geschichte als “AITA” Beziehungskonflikt umformuliert:
Es gab Vermischungen von Apfelstrudel und dem populären BoschBot, Tweets in denen der Bundestagswahlkampf einbezogen wurde, einen Mix des TK-Apfelstrudels mit der populären Memevorlage des Icebox-Gedichtes von William Carlos Williams, die Umwandlung des Erzählten in Bilder-Meme-Formate, die Vermischung des Apfesltrudel-Themas mit anderen populären erzählerischen Tweet-Formaten, bei denen der Realitätsstatus regelmäßig zweifelhaft ist: Job-Interview Anekdoten oder Kinder-Tweets mit für bestimmte Twitter-Stilgemeinschaften typischen Markierungen, wie beispielsweise “GöGa” für Göttergatte.
Vielleicht lässt sich am Beispiel des Apfelstrudel-Threads und seiner Rezeption zeigen, dass auf Twitter publizierte Erzählungen, die sich durch ihre extreme Genrehaftigkeit auszeichen, besonders aus der Unsicherheit in Bezug auf ihren Realitätsstatus Resonanz gewinnen können. Diese Resonanz äußert sich dann in einem kollektiven Schreibspiel, bei dem das Ausgangsaterial kreativ verformt wird. Gleichzeitig gibt es aber für diese Genretweets immer auch eine Rezeption, die sehr affirmativ ist und sich für den Fiktionsgehalt der handwerklich gut gemachten Erzählminiatur gar nicht interessiert, also auf einer Art sozialmedialer willentlichen Aussetzung der Ungläubigkeit beruht.
Stark vergrößerte Aufnahmen von Alltäglichem (“XYZ unter dem Mikroskop”) sind eine solide Währung in den sozialen Medien, hier macht sich jemand darüber lustig. Es gab einen sehr guten Tweet, der das Imposter Syndrom perfekt umschreibt.
Spotify-Playlisten als Kommunikationsform habe ich in diesem Newsletter schon öfter besprochen, aber über Playlisten als Russisches Roulette habe ich mich besonders gefreut. Wer – wie ich – die Wörter “Schniposa” und “Hemenex” nicht kennt, wird hier eine Erklärung finden.
Mit diesem Link zum vielleicht besten Impfbild (aus Finnland) wünsche ich euch einen schönen Sonntag und eine gute Woche.
Wenn euch dieser Newsletter gefällt oder ihr Menschen kennt, die sich ebenfalls über eine sonntägliche eMail freuen würden, dann bin ich euch für Weiterempfehlungen sehr dankbar. Ihr findet mich wie immer auf Twitter und auf Instagram, wo ich aktuell regelmäßig Bilder aus Island teile (für alle Polarkreisinteressierten unter euch).