Brainrot Morde oder wie man einen Abgrund überwindet
In den USA ist am 10. September ein rechtsextremer Influencer ermordet worden. Menschen, die viel Zeit im Internet verbringen, kannten das Opfer seit langem. Charlie Kirk war ein rechtsradikaler Hassprediger, der seit Jahren massiv junge Männer radikalisiert hat und eine wichtige Rolle für die Internetstrategie des aufkeimenden Faschismus in den USA gespielt hat. Direkt nach dem Attentat überschlugen sich die etablierten Printmedien in den USA aber auch in Deutschland Charlie Kirk posthum zu einer Art Märtyrer der Redefreiheit zu stilisieren und normalisierten dabei seine brandgefährliche Rhetorik.
Bei Spiegel Online schrieb beispielsweise Sascha Lobo ausgerechnet für die Netzwelt eine kompetenzfreie Kolumne mit der (in diversen Posts und Texten aus den USA bereits etablierten) These, dass das Feiern politischer Morde komplett undemokratisch sei, was angeblich in den sozialen Medien reihenweise stattfinden würde. Für Behauptungen, was angeblich in den sozialen Medien passiere, braucht es für viele Medien keinerlei detaillierte Recherebelege oder kritische Auswertungen. Posts von anonymen Accounts mit einer Handvoll Follower reichen und so lässt sich wirklich jede Behauptung, auch die abwegigste mit zwei Beleg-Posts aus einer Onlinenische begründen. Man könnte so auch eine Netzwelt-Kolumne schreiben mit der radikalen These, dass Menschen im Internet Waschmittel essen
Statt also Charlie Kirks Rolle für die Radikalisierung der Internetrechten zu analysieren oder sich zumindest einige virale Momente aus der Karriere Kirks anzuschauen und kritisch einzuordnen, gab es einen Steigerungswettbewerb im Formulieren völlig unkritischen Redefreiheitkitsches – den Pokal hat vermutlich Ezra Kleins vielfach verlachter Text mit der Überschrift “Charlie Kirk Was Practicing Politics the Right Way” gewonnen.
In der Reaktion auf die Ermordung von Charlie Kirk wurde wieder einmal deutlich, wie extrem groß in den letzten Jahren der Abstand zwischen Internetkultur und Offlinekultur geworden ist. [Wirklich lobenswerte Ausnahme im deutschsprachigen Raum war übrigens die ausführliche Recherche “Warum Charlie Kirk kein Märtyrer ist” von Philipp Greifenstein. Es ist kein Zufall, dass diese Recherche auf einer unabhängigen kleinen Plattform erschien.]
Es ist ein zunehmend brennendes Problem, dass die etablierten Institutionen seit Jahren verweigern sich mit der Rolle von Onlinekultur auseinanderzusetzen, obwohl seit vielen Jahren Offlinegewalt aus Internetkultur entsteht.
“Regardless of the motive, the shooting was clearly staged to maximize impact on social media. […] Shitposts, memes, conspiracy theories, and delirious right-wing lust for civil war have spun together online over the last 24 hours more intensely than we’ve ever seen before. The logical endpoint of 21st-century America: An influencer shot to death at a school in front of a crowd of smartphones.” (Ryan Broderick: The logical endpoint of 21st-century America – Charlie Kirk and what comes next. Garbage Day)
Viele Menschen, denen Charlie Kirk ein Begriff war, versuchten bereits nach dem Attentat, als zahlreiche Falschmeldungen kursierten, darauf hinzuweisen, dass die Möglichkeit eines ebenfalls rechtsextremen Attentäters nicht gering war. Wer die Groyper Wars verfolgt hatte, ahnte um den Machtkampf, der in der Internetrechten tobte. Schon bevor der Täter gefasst wurde, versuchten wir auch im, deutschsprachigen Raum darauf hinzuweisen, dass es für jede Person im Politikjournalismus, die das Attentat kommentierte, notwendig sei, sich mit Nick Fuentes und den Groyper Wars auseinanderzusetzen:
Seit der Verkündung des Täternamens kursierte in den sozialen Medien ein Facebook-Post seiner Mutter, in dem sie 2018 ein Halloween-Kostüm ihres Sohnes mit “Tyler is some guy from a meme” beschrieb. (Das Meme, auf das sich hier bezogen wird ist übrigens das Slav Pepe Squat Meme)
Die Hilflosigkeit, mit der Eltern die Internetkulturbezüge ihrer Kinder nicht verstehen, aber sich auch nicht die Mühe geben, sie einzuordnen oder darüber zu lernen, steht exemplarisch für das Verweigern vieler Menschen sich mit einer Kultur zu befassen, die zunehmend heftigere Gewaltauswirkungen in der Realität hat. Es reicht eben nicht zu denken, dass das Kind sich als süßer Frosch verkleidet hat, wenn es mit einem “Pepe the Frog”-Memekostüm zur Party geht.
Als die Festnahme des Täters in einer Pressekonferenz verkündet wurde, kursierten bereits Falschinformationen, dass auf die Tatpatronen “trans ideology” geschrieben worden sei. Tatsächlich gab es Aufschriften auf den Patronen, die sich auf die Internetkultur bezogen. Diese Referenzen waren jedoch so verschachtelt und spezifisch, dass die etablierten Medien es nicht schafften diese Layer zu durchdringen. So wurde beispielsweise die Aufschrift “Ciao Bella Ciao” von BBC über die New York Times bis hin zum Schweizer Blick als antifaschistisch bezeichnet, obwohl das ursprünglich antifaschistische Lied in der Internetkultur völlig anders konnotiert ist. Die meisten Institutionen sind auch 2025 nicht in der Lage auf die notwendige Kompetenz zurückzugreifen, um Internetkultur überhaupt kritisch einordnen zu können.
Wer detailliert entschlüsselt bekommen möchte, auf welche Memes sich der Attentäter bezog, wie der Mord sich in die Memekultur einordnet und auf welches Radikalisierungsmilieu er verweist, dem sei an dieser Stelle erneut der Newsletter von Ryan Broderick empfohlen, der dankenswerterweise decodiert, was die meisten etablierten Medien nicht recherchiert bekommen. (Ryan Broderick: Charlie Kirk was killed by a Meme. Garbage Day)
Für Menschen, die hüfttief in Internetkultur feststecken, deren Gespräche sich immer wieder um Online-Themen drehen, deren Humor entscheidend von ihren Timelines beeinflusst wird und die vielen ihrer sozialen Kontakte vorwiegend virtuell begegnen, sodass viele ihrer Ansichten und Verhaltensweisen von den sozialen Medien geprägt sind, haben sich in den letzten Jahren die Begriffe „extrem online“, „chronisch online“ und „terminally online“ eingebürgert. All diese Begriffsvariationen verweisen darauf, dass die Benutzenden vielleicht zu viel Zeit im Internet verbringen. Nicht zufällig sind diese Begriffe semantisch mit unheilbaren Krankheiten assoziiert, man ist „terminally online“ – unheilbar mit dem Internet verwoben – und hat sich dadurch so stark verändert, dass es kein Zurück mehr gibt.
In den letzten Jahren gab es auf allen Plattformen immer wieder den Trend, dass Menschen gebeten wurden, von Aussagen und Erfahrungen zu erzählen, die sie als besonders chronisch online empfunden haben. Berichtet wird dann von sehr hart formulierten politischen Anschuldigungen als Reaktion auf letztlich belanglose Handlungen, von Revierkämpfen verschiedener Fan-Gemeinschaften und von Menschen, die völlig den Bezug zur realen Welt verloren haben. Im Frühjahr 2022 fragte auf der Social News Plattform Reddit ein User, was mögliche Symptome für die Diagnose „terminally online“ wären. Zur Beantwortung seiner Frage formulierte er eine Skala von „Berührt echtes Gras“ bis „weiß was ‚Berühr Gras‘ bedeutet“ und spielte damit auf ein populäres Reaktionsmuster im Internet an, bei dem Menschen einander darauf hinweisen, dass sie vielleicht mal hinausgehen und Gras berühren sollten.
Halbernst wird dabei das offline sein, der Aufenthalt außerhalb von virtuellen Räumen, als Heilmittel für das angeblich deformierte Internetgehirn empfohlen. Der Kommentar, doch einmal Gras zu berühren, ist zu einem Meme geworden, mit dem sich Menschen wechselseitig darauf hinweisen, dass sie chronisch online sind. Letztlich greift das ironische Meme damit die etablierten technikskeptischen Diskurse auf, die das Internet und die sozialen Medien von Anfang an begleitet haben. Neben Sorgen vor TikTok Brain, Snapchat Dysmorphie oder der Angst vor Sexting, verkürzten Aufmerksamkeitsspannen und durch die sozialen Medien veränderten Selbstbildern, ist eine zentrale Angst, die besonders in den letzten Jahren immer wieder formuliert wird, dass die sozialen Medien durch ihre algorithmische Architektur die Demokratie unterwandert oder gar zerstört haben.
Die Veränderung der Welt durch Internetkultur betrifft mittlerweile eben nicht mehr nur Einzelpersonen, die einfach mal Gras anfassen sollten. Internetkultur ist keine Nische mehr, die man wahlweise ignorieren oder als obskuren Quatsch verlachen kann – wie es beispielsweise noch bei GamerGate vor zehn Jahren der Fall war. Es fühlt sich wirklich unfassbar an, dass man das 2025 überhaupt noch benennen muss. Das Internet ist in den letzten Jahren zentraler Teil einer Radikalisierungspipeline geworden, mit unterschiedlichen Phänomenen, Subkulturen und Referenzrahmen. Die massive Ausdifferenzierung verschiedener Communities trägt dazu bei, dass es immer schwieriger wird Subkulturen mit komplexen eigenen Codes und Referenzen zu verstehen. Dafür braucht es Expert*innen, die diese Kulturen nicht nur erklären, sondern auch dechiffrieren können. Wenn wir den Graben zwischen Internetkultur und einer sich dem Internet verweigender Offline-Kultur überwinden wollen, müssen wir anhand konkreter Beispiele ins Gespräch kommen. Diese Beispiele müssen nicht immer dystopisch und gewaltvoll sein, viel Internethumor ist tatsächlich auch lustig, kreativ und gemeinschaftsstiftend. Zu einem kritischen Gespräch gehört aber auch, sich mit dem Radikalisierungspotenzial und der entmenschlichenden Wirkung zahlreicher Memes und Formen von Internethumor auseinanderzusetzen. Dazu gehört auch ein kritischer Blick auf verschiedene Schlüsselmomente der letzten fünfzehn Jahre, in denen im Internet Weichen gestellt wurden, die uns in die aktuelle Gegenwart geführt haben (GamerGate, Antifeminismus, Incelkultur usw.) Es gibt Expert*innen, die das seit Jahren tun – hören wir ihnen zu.
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Bin über das nuf hergekommen und hab mir extra die substack app installiert. Fühle mich durch den text belohnt. Danke!
Ich liebe alles an diesem Text.