Über singende Politiker, die unsichtbare Hand und Zeitreisen
Ich habe den Eindruck, dass die Kommunikation in den sozialen Medien seit der Pandemie noch schneller abläuft als sonst, die Konflikte, Skandale und auch Memes in hoher Geschwindigkeit aufeinander folgen. Vielleicht täuscht mich mein persönlicher Eindruck auch, aber es könnte daran liegen, dass durch die Einschränkungen zwangsläufig noch mehr soziale Bedürfnisse in den virtuellen Raum verlagert sind. Über die verstärkte Nutzung sozialer Medien in der Pandemie wurde bereits im ersten Lockdown viel geschrieben (es gibt sogar einen eigenen Wikipedia-Artikel zum Thema). Es wird interessant sein zu schauen, ob sich diese Phänomene im zweiten Lockdown noch verschärft haben.
Zu Beginn des 16. Newsletter eine Ankündigung in eigener Sache: Mir macht das Schreiben dieses Newsletter große Freude. Jede Woche verwende ich mehrere Stunden dafür und bin glücklich über die große Resonanz, auf die er in den letzten Monaten gestoßen ist. Ich möchte auch weiterhin, dass dieser sonntägliche Newsletter frei zugänglich bleibt, aber für diejenigen Leser*innen, die es sich leisten können und wollen, habe ich bei Substack die Möglichkeit eines Bezahlabos eingerichtet, mit dem dieser Newsletter und meine Arbeit regelmäßig unterstützt werden kann.
1.
Ich freue mich immer über Zeitreise-Tweets, in denen Phänomene unterschiedlicher Jahrzehnte miteinander vermischt werden. In diesem Videoclip kann man sich anhören, wie “Wonderwall” von Oasis in den 80er Jahren geklungen hätte (als Mischung mit Bronski Beats “Smalltwon Boy”) und hier gibt es noch eine weitere Version von “Wonderwall in den 80ern”.
2.
Eigentlich wollte ich mich diesem Meme bereits in der letzten Woche widmen, aber dann war der Newsletter bereits so umfangreich geworden, dass ich es auf diese Woche verschoben habe. Dieses Meme ist strukturell interessant, weil es stereotype Muster einer patriarchalen Gesellschaft als ironische Pointe auf Bilder überträgt, die in völlig anderen Kontexten entstanden sind. Mit solchen Text-Bildscheren lässt sich der Humor und die starke Verbreitung einer bestimmten Sorte von Memes erklären. Wenige Tage vor der Amtseinführung von Joe Biden, bei der auch Lady Gaga auftrat, wurde ein Bild von Biden und Gaga viral geteilt, das bereits 2017 im Kontext einer Videokampagne gegen sexualisierte Belästigung entstanden war.
Der initiale Tweet (siehe oben) spielte mit einem ironischen Kommentar auf eine Beziehung mit großem Altersabstand an, dekontextualisierte also die Aufnahme und verwendete sie stattdessen mit ironischem Verweis auf Rollenklischees. Das Muster wurde daraufhin in einigen Tweets übernommen. Bereits einen Tag später kam auch ein Tweet mit einem Bild von Bernies Sanders und Cardi B hinzu, der auf die fiktiven Figuren Jay und Gloria anspielt, die in der Serie Modern Family eine Beziehung mit sehr großem Altersunterschied führen. Das Bild entstammt einem viralen Video aus dem Jahr 2019, in dem sich Bernie Sanders und Cardi B in einem Nagelstudio miteinander über Politik unterhalten.
Die zwei Bilder, auf denen jeweils ein mächtiger alter Politiker mit einer jungen Musikerin abgebildet ist, wurden direkt vor der Amtseinführung des bei Amtsübernahme bis dato ältesten Präsidenten viral geteilt. Besonders die Verwendung des Biden-Gaga Bildes in einer bildbearbeiteten Mastermind-Verpackung macht eine in dem Meme implizit enthaltene Kritik deutlich.
Mastermind, ein Trendspiel des 1970er Jahre, erschien zuerst 1971 in Großbritannien. Das Verpackungsdesign der britischen Originalversion verweist in seiner Paarung eines sitzenden älteren Mannes mit einer dahinterstehenden jungen Frau deutlich auf die gesellschaftlichen Machtverhältnisse.
Over the years, the game was released in a bewildering number of variations (producing such contortions as “NEW original Mastermind”), but that original box cover—loaded as it was with social, economic, racial, sexual, and generational tension—set the model for the increasingly inscrutable iterations displayed on the game’s many subsequent U.K. and foreign editions. (Richard McKenna: “Cunning and Logic: The International Imagery of ‘Mastermind’” 27.3.2017)
Diese Bildsprache wird auch in vielen internationalen Adaptionen des Spieles aufrechterhalten: Der mächtige Mann sitzt und die junge Frau steht leicht versetzt hinter ihm. Die Verwendung des Biden-Gaga Bildes in diesem Cover kann so auch als Kritik daran gelesen werden, dass sich die Machtverhältnisse in den 50 Jahren seit erscheinen des Spiels gar nicht so sehr geändert haben.
3.
Bilder des CDU-Politikers Philipp Amthor bilden regelmäßig Vorlage für Memes und er ist dadurch im politischen Diskurs präsenter, als es mit Blick auf seine konkreten Funktionen angemessen wäre. Dies liegt einerseits daran, dass es zwischen Philipp Amthors Alter und seiner Selbstpräsentation eine auffallende Diskrepanz gibt: Er verhält sich regelmäßig wie der jüngste Großvater Deutschlands. Die erstaunlich spießigen und provinziellen Bilder des Jungpolitikers beim Kaffee trinken oder auf der Jagd sind hervorragend für ironische Memes geeignet und tragen dadurch zu seiner Sichtbarkeit bei.
Regelmäßige Präsenz als Meme in der öffentlichen Wahrnehmung übersetzt sich jedoch nicht immer in politischen Erfolg, wie zuletzt Friedrich Merz feststellen musste. Philipp Amthor arbeitet davon unbeeindruckt weiter an der Selbstdarstellung als Meme und scheut dabei auch nicht vor Abstechern in das ganz rechte Feld zurück. Zuletzt sang er auf Clubhouse das auch bei der NPD beliebte Pommernlied und lieferte damit Futter für ein neues Meme, das sich auf den singenden Amthor bezog und dabei auch auf sein gefährliches Spiel mit rechter Provokation verwies.
4.
Der Einfluss von Memes auf den politischen Diskurs und die Wechselwirkung von Memes mit anderen Gesellschaftsbereichen sind immer wieder Thema dieses Newsletters gewesen. In dieser Woche kommen nun Meme-Aktien hinzu. Man kann seit etwas über einer Woche dem GameStop Phänomen kaum entkommen. Ausgehend von dem Subreddit r/wallstreetbets (“Like 4Chan found a bloomberg terminal”) kam es zu einem Short Squeeze der GameStop Aktie, der sich in Folge noch auf andere Aktien ausweitete und einen Hedge Fonds in die Knie zwang: Melvin Capital musste nach Milliardenverlusten von Citadel gerettet werden. Die ökonomischen Hintergründe dieses Aktienmarktphänomens wurden in Posts und Threads erklärt, die ebenfalls viral gingen und auf die ich hier nicht näher eingehen werde.
Mich interessiert besonders der memetische Erfolg der kollektiven Spekulation. Denn um das Phänomen des GameStop Short Squeezes zu verstehen, muss man neben den ökonomischen Zusammenhängen auch nachvollziehen, welche Online-Dynamiken ins Spiel kamen. Das “David gegen Goliath”-Narrativ, mit dem sich die kollektive Aktion der Kleinanleger*innen viral verbreitete und das Quelle für zahlreiche Memes wurde, ist ein wichtiger Teil dieses Sichtbarkeitserfolges. Viele Tweets zu dem Thema, die dann weitere Kleininvestor*innen ermutigen, erzählten in Variationen von einem Kampf der 99% gegen die 1%. Ein Phänomen, das durch die Überraschung im Angesicht des Erfolges noch verstärkt wurde. Der Spott über die Hedge Fonds lud zu weiteren Tweets mit Memes und Kommentaren ein, die dann viral geteilt wurden und noch mehr Menschen motivierten an dem Spiel teilzunehmen.
Dass die von vielen der Kleininvestor*innen zur Spekulation genutzte App den Namen RobinHood trug, konnte initial das Narrativ von Arm gegen Reich weiter bestärken. Als dann jedoch plötzlich die Spekulationsmöglichkeiten der Kleinanleger*innen beschränkt wurden, bestärkte dies nur die kapitalismuskritische Lesart des Phänomens, nach der die Marktregeln zu Gunsten der Reichen geschmiedet sind. Der Erfolg der koordinierten Kleinanleger*innen wurde als zeichen dafür gelesen, dass man als Kollektiv dieses voreingenommene System dennoch erfolgreich stören kann.
Zur weiteren Sichtbarkeit des Phänomens trugen auch Tweets von Accounts bei, die wegen ihrer Namen plötzlich mit Anfragen überschüttet wurden: Die Robin Hood Gesellschaft in Nottingham hat plötzlich über 60.000 Follower*innen und eine Journalistin mit dem Namen Hedges-Stock musste zahlreiche Fragen nach Spekulationstipps abwehren.
Mittlerweile häufen sich die Beiträge, die einerseits davor warnen das Phänomen zu idealistisch zu sehen, weil am Ende doch immer Hedge Fonds Geld machen, oder vor der Lesart des Ereignisses als neuer Phase des Klassenkampfs warnen. In diesem sehr lesenswerten Beitrag wird GameStop in Bezug zu Occupy gesetzt. Sicher ist vor allem, dass es in Bezug auf die Ereignisse der letzten Woche noch viel zu analysieren geben wird.
5.
Angesichts der Erfahrungen der letzten Woche mit Meme-Stocks empfehle ich diese Woche den Account @econinbricks. Ähnlich wie @EthicsInBricks es mit philosophischen Themen macht, wird hier anhand von Bildern von Lego-Figuren über Konzepte und Neuigkeiten aus dem Bereich der Wirtschaftswissenschaften nachgedacht.
Zum Abschied hier noch ein Hinweis auf eine Kamera in einer Taschenuhr für Spione am Ende des 19. Jahrhunderts und auf einen Videoclip, in dem man sehen kann, wie man sich im Weltraum die Haare wäscht. Ich wusste bis jetzt nicht, was passiert, wenn man ein Porträt von Tolstoi auf den Kopf stellt. (Wird man irgendwann zu alt für diese Form von Humor? Ich glaube nicht.) Wie das Spiel “Mensch ärgere dich nicht” in der Lockdown-Version aussieht, kann man hier sehen.
Im Kontext des GameStop-Hypes, der eng mit Technostalgie zusammenhängt, stieg auch die Nokia-Aktie. Zu Aufstieg und Fall von Nokia kann ich diesen Film sehr empfehlen.
Herzlichen Dank für die netten Rückmeldungen, Hinweise und Anregungen in den vergangenen Tagen. Ich wünsche euch alleinen einen schönen Sonntag und einen guten Start in die neue Woche.
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