Über Rollkragen, kanadische Butter und Eisberge
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Aktuell handelt es sich dabei um mein Vorhaben eine Art “Internet Grimoire” zu schreiben. Es geht um die Frage, wie sich magisches Denken mit dem virtuellen Raum verbindet, wie ein oberflächlich archaisches System wie die Zauberkunst sich neue Technologien zu Nutze macht: Emoji-Zaubersprüche, Twitter-Flüche, evil Captchas usw. Die Frage ist, welche Erkenntnisse an der Schnittstelle von Technologie und magischem Denken entstehen können.
Der Newsletter dieser Woche widmet sich anhand von zwei aktuellen Anlässe (Tom Cruise Deepfakes und K-Pop Fans) einigen Themen, die im weitesten Sinne mit einer durch Technologie veränderten globalen Kommunikationslandschaft zu tun haben und den möglichen politischen Auswirkungen dieser Veränderungen auf den Diskurs. Dazu passt auch dieser Thread, der sich gruselig aussehenden Roboter-Hunden widmet, die neuerdings in New York von der Polizei eingesetzt werden. In dem Thread werden mögliche Mittel aufgelistet, um diese Roboter zu entschärfen. Die Roboter wirken nicht so bedrohlich wie initial angenommen, wenn man weiß, dass man ihnen die Batterie aus dem Bauch nehmen kann oder sie bloß mit einfach optischen Kameras operieren.
Vielleicht ist das grundsätzlich ein guter Ansatz: Man muss den Versuch machen, Technik und ihre Auswirkungen zu verstehen, um daraus eine realistische Auseinandersetzung mit möglichen Gefahren ableiten zu können.
Aber keine Sorge, der Newsletter ist dieses Mal nicht nur tech-politisch randvoll, es gibt auch komische Häuser, Gedanken zu Komik und einige Links zu lustigen Videos.
1.
Der TikTok-Account @DeepTomCruise hat in den letzten Tagen drei Deepfake-Videos von Tom Cruise geteilt, die erstaunlich überzeugend sind und vermutlich auch deswegen extrem oft angesehen wurden. Die Videos sind Deepfakes. Das heißt sie sind mit Hilfe von künstlicher Intelligenz erstellt, haben also nichts mit dem realen Tom Cruise zu tun, der Unterschied ist jedoch für Unwissende kaum zu erkennen. An den Tom Cruise Clips scheitern auch Deepfake-Detektoren, wie auf Twitter mehrere Personen ausprobiert haben. Die zunehmende Verunsicherung über den Status von Bewegtbildaufnahmen ist auch für autoritäre Regimes ein gutes Mittel um regimekritische Clips zu diskreditieren, wie dieser Artikel darlegt.
In den letzten Monaten werden die Beispiele für AI animierte Bewegtbilder immer häufiger, hier beispielsweise in einem animierten Foto mit Wellerman Soundtrack und hier in einem anderen Vidoclip. Auf der Website von MyHeritage kann man mit der Deep Nostalgia AI Bilder bearbeiten und animieren lassen. Die Resultate ähneln lustigerweise stark den Porträtaufnahmen in den Harry Potter Filmen – die Grenzen zwischen Technik und Magie werden von den Betrachtenden gezogen.
2.
Ich frage mich immer, ob man Genre- und Gattungsbegriffe auch auf bestimmte Tweetsorten anwenden kann und ob es eigentlich Sinn ergeben würde, ein Phänomen zu systematisieren, das sich so schnell wandelt. Würde ich eine Twittertypologie schreiben, dann müsste ein Abschnitt sich Tweets zu merkwürdigen Immobilien widmen. Hausverkäufe von und Hausbesuche bei Prominenten sind schon immer beliebtes Material für Klatschzeitschriften und Accounts in den sozialen Medien, aber bei den Immobilientweets geht es nicht um die Bekanntheit der Ex-Bewohner*innen sondern um Absurditäten, Gruseliges oder Extravagantes in regulären Immobilienanzeigen. Immer wieder sind Tweets sehr erfolgreich, in denen auf solche Bilder aus Immobilienanzeigen hingewiesen wird.
Vermutlich schauen eine ganze Reihe Menschen Immobilienanzeigen gar nicht an, weil sie sich Wohnraum zulegen wollen, sondern um durch die detaillierten Bebilderungen Einblicke in das Leben anderer Menschen zu bekommen und dabei immer wieder auf wirklich interessante Inneneinrichtungen zu stoßen. Das Scrollen durch Immobilienanzeigen ist eine gesellschaftlich legitimierte Form sich endlich einmal Wohnungen sehr reicher Menschen genauer anzuschauen, sich an andere Orte zu träumen oder einfach seinen voyeuristischen Gelüsten zu folgen. Das Konzept des Recherchierens nach Außergewöhnlichem in Immobilienanzeigen wird beispielsweise von dem Account “Zillow Gone Wild” auf Instagram und Twitter umgesetzt. Zu den erfolgreichen Posts mit Links zu den Immobilienanzeigen gehören auch immer die Antworten, die sich in wechselseitiger Überbietung auf das Gezeigte beziehen, Witze und Kommentare zu den merkwürdigen Einrichtungen abgeben, beispielsweise zu den absurd vielen Steckdosen in diesem Angebot.
3.
Die Köchin Julie Van Rosendaal hat Anfang Februar einen Tweet gepostet, in dem sie sich über die Konsistenz der kanadischen Butter beschwert. Aus diesem an sich harmlosen Tweet, der auf große Resonanz stieß, ist eine Debatte in Kanada entstanden: #Buttergate. In der Krise wurde wohl mehr gebacken, die Nachfrage nach Butter stieg und die Bauern haben begonnen ihren Kühen Palmöl zuzufüttern, was die Konsistenz der Butter nachhaltig veränderte. Der Verband kanadischer Milchbauern musste Stellung nehmen und die kanadische Butter hat es bis in die internationale Presse geschafft.
4.
Es gibt unterschiedliche Spielarten der Komiktheorie, die versuchen zu erklären, warum und wie Komik funktioniert (was im besten Falle zu einem größeren Verständnis des eigenen Lachens führt und im schlechtesten Falle nur den Witz ruiniert). Innerhalb der Komiktheorie gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze, beispielsweise die gesellschaftliche Entlastungsfunktion des gemeinsamen Lachens, die soziale Ausschlussfunktion durch das Verlachen oder aber die Komik, die aus Widersprüchen entsteht. Letztere werden auch als Inkongruenz-Theorien bezeichnet. Inkongruenz-Theorien knüpfen oft an Überlegungen von Schopenhauer an, finden sich aber auch in anderen Modellen, beispielsweise in Wolfgang Isers Kipp-Figur. Ausgangspunkt des Lachens ist laut Inkongruenztheorien die fehlende Übereinstimmung von Erwartung und Geschehen, von abstraktem Begriff und der erlebten Realität. Das war nun ein langer und sehr theoretischer Vorlauf, um auf ein Video hinzuführen, das auf wirklich brilliante Weise die Inkongruenz als komischen Effekt zeigt (Sound unbedingt mithören).
5.
Es gibt Internetereignisse, die irgendwann so selbstbezüglich sind, dass sie aus externer Position immer schwieriger nachzuvollziehen werden. Eigentlich wollte ich in dieser Woche nur kurz über die Fans der K-Pop Band BTS schreiben und ihre gerechtfertigte Wut über die rassistischen Kommentare des BR3-Moderators Matthias Matuschik in seiner Show, die zu einem globalen Protest führten. Die Ereignisse haben sich jedoch so stark beschleunigt, dass ein etwas längerer Abschnitt Sinn ergibt.
K-Pop Fans generell, aber die Fans von BTS besonders, sind außergewöhnlich gut in den sozialen Medien organisiert und als hyperloyale Fans eine nicht zu unterschätzende Macht im globalen Diskurs. Im Sommer 2020 hatten beispielsweise K-Pop Fans die Trump Campaign getrollt, als sie alle Tickets zu einer Veranstaltung aufkauften, die dann vor teilweise leeren Rängen stattfand. Die BTS-Fans sind so vernetzt und einflussreich, dass sie als neue mögliche globale Cybersecurity-Bedrohung gewertet werden können und damit in die Fußstapfen von Anonymous treten. Die Verteidigung der Fandoms klingt im Gegensatz dazu oft ein wenig verharmlosend:
“Explaining that K-pop Stans and Anonymous are fundamentally different, “both in skillset and the demographics they represent,” as well as having very different motives, Vix points out that “Anonymous were predominantly white, male internet vigilantes” that sought to disrupt cyber-attacks. “K-pop Stans and ARMY are predominantly female, many from minority ethnic groups, and are more interested in gaming YouTube algorithms to increase music video views than they are with supporting a political Agenda.” (Davey Winder: “Meet The New Anonymous—100 Million BTS ARMY And K-Pop Stans, A Cyber Force To Be Reckoned With?” Forbes, 6.9.2020)
Der Comedian Shahak Shapira hat jedoch auf Twitter versucht den Zorn der BTS-Fans auf die AfD zu lenken und ist dabei selbst in den Fokus geraten und wurde mit antisemitischen Kommentaren geflutet, was erneut zeigt wie ambivalent und komplex Online-Massenbewegungen wie Anonymous und K-Pop Fans agieren, was auch eine Warnung vor jeglicher Idealisierung sein sollte.
“By forcing our understanding of this landscape into preconceived frameworks, he says, we see cyberwar through a lens of understanding previous wars. "One effect of this is that we will overestimate the significance of familiar elements like hacking tools and other cyber weapons," van der Walt continues, "while underestimating other elements like the idea of soft power and the incredible influence that a networked construct like social media can bring to bear."“ (Davey Winder: “Meet The New Anonymous—100 Million BTS ARMY And K-Pop Stans, A Cyber Force To Be Reckoned With?” Forbes, 6.9.2020)
6.
Ich bin in Schleswig-Holstein aufgewachsen, dem Bundesland, das im Herbst und Winter wochenlang unter einer grauen Decke verschwindet. Ausgehend von von Lauren Dormans Twitterbot @colorofberlin, der im April 2020 online ging, sieht es im Himmel über Berlin nicht anders aus. Der Bot nimmt regelmäßig den Farbwert des Himmels aus Bildern einer Berlin-Webcam und tweetet dann ein monochromes Bild mit dieser Farbe, dem Farbnamen und dem HEX Farbwert.
Falls ihr euch in der nächsten Woche fragt, was ihr anziehen sollt, dann kommt hier die ultimative Lösung: Turtleneck & Blazer, On point like a Lazer. (Und hier noch ein Video zum Song.) Wer noch überlegt die Pandemie-Frisur zu Hause abrasieren, könnte sich hiervon inspirieren lassen und zumindest die Gelegenheit für ein gutes TikTok-Video nutzen. Auf dieser Website kann man Eisberge zeichnen und dann schauen, wie sie schwimmen und ob sie umkippen. Bitte nehmt dieses Video als Warnung, niemals einen guten Geburtstagskuchen zu verschwenden. Ich wünsche euch eine Woche genau nach eurem Geschmack!
Herzlichen Dank für all die Hinweise und Rückmeldungen der letzten Woche – ich freue mich darüber wirklich sehr. Wie immer gilt: Wenn der Newsletter im Spamfilter hängen geblieben ist, dann müsst ihr den Absender zu eurem Adressbuch hinzufügen. Wenn euch dieser Newsletter gefällt, freue ich mich wirklich sehr über Weiterempfehlungen. Mit diesem Link kann der Newsletter geteilt werden: Phoneurie. Ihr findet mich außerdem auf Twitter und auf Instagram. Habt eine gute Woche!