Über Rentiere, Papiersterne und Mundhaptik
Heute ist Nikolaustag und der zweite Advent und ich hoffe, dass diejenigen von euch, die diese Feste feiern, einen ruhigen Tag verbringen können und etwas Schönes in den Schuhen hatten. Allen anderen wünsche ich einen erholsamen Wintersonntag.
Letzte Woche habe ich nach interessanten Social Media-Adventskalendern gefragt und darauf von euch Antworten bekommen und selbst einiges in meiner Timeline gesehen. Für die nächsten Wochen empfehle ich euch also den apokalpytischen Adventskalender von @Fischblog. (Er leitet seine Adventskalendertweets immer mit “Apokalyptischer Adventskalender” ein, man findet also mit der Twitter-Suchfunktion auch die vergangenen Tage sehr leicht.) Schön finde ich auch diesen Adventskalender, der interessante Twitter- und Instagram-Accounts teilt, die sich im weitesten Sinne mit Kunst und Kultur beschäftigen. Außerdem müsst ihr euch unbedingt, diesen Suppen-Adventskalender anschauen. (Mögen Teile der deutschsprachigen Twitterwelt besonders gerne Suppe?)
1.
Die beliebte Weihnachtsgeschichte von Rudolph dem Rentier mit der leuchtend roten Nase, das erst von den anderen Rentieren ausgeschlossen und verspottet wird, dann aber in der Weihnachtsnacht mit seiner Nase den Weg durch schlechtes Wetter leuchten kann, wurde 1939 von Robert L. May für die Warenhauskette Montgomery Ward als Weihnachtsbuch entwickelt und als Weihnachtslied von 1949 weit bekannt. Seitdem ist Rudolphs Geschichte in verschiedenen Medien umgesetzt worden, unter anderem in einem Stop Motion Weihnachtsfilm von 1964. Rudolph-Tweets, Karrikaturen, Comics und Memes sind in der Vorweihnachtszeit häufig zu finden, manche dieser Memes verwenden Filmstills des traditionellen Fernsehfilms. Immer wieder taucht dabei eine Meme-Variante auf, die den Kern der Geschichte um das rotnasige Rentier damit zusammenfasst, dass Abweichungen von der Norm solange bestraft würden, bis sie ausbeutbar seien. Diese Deutung bietet die Geschichte von dem Rentier, das erst dann anerkannt wird, als es nützlich ist, durchaus an. Wie bei allen kritischen Auseinandersetzungen mit liebgewonnenen Traditionserzählungen wird auch auf diese kritische Lesart, mit politisierter Abwehr reagiert. Dabei ist es eine spannende Aufgabe zu hinterfragen und zu diskutieren, was die Geschichten, die wir uns erzählen, über unsere Gesellschaft aussagen, über die vielen impliziten Annahmen und Muster, die unser Zusammenleben prägen.
2.
Es gibt im Jahreskreis auf Twitter wiederkehrende Tweet-Saisons, bestimmte Themen die regelmäßig auftauchen. Dazu gehören im Winter Reaktionen auf den ersten Schnee, das kältere Wetter und den Beginn der Rosenkohlzeit. Viele haben aus ihrer Kindheit unangenehme Erinnerungen an den Geschmack von Rosenkohl und in letzter Zeit festgestellt, dass ihnen Rosenkohl plötzlich schmeckt. Dazu gehöre ich auch und ich fand diesen Twitter-Thread + verlinkten Artikel zum Thema veränderter Rosenkohlzüchtungen, die das Aroma beeinflusst haben, sehr aufschlussreich.
Diskussionen und Memes zu Lebensmitteln sind in den sozialen Medien ein großes Thema. Bei Debatten über Ananas auf der Pizza, die richtige Zubereitung von Tee oder Kaffee, die besten Süßigkeiten aus Kindertagen ist die Einstiegsschwelle gering und alle haben Meinungen und Gedanken. Das macht Threads zu diesen Themen so aktiv und oft auch unterhaltsam – @FrauFrohmann fragt beispielsweise auf Twitter seit einer Weile regelmäßig verschiedenste Fragen zum Thema “Essen” und erhält viele Antworten. Interessant sind auch die eigenen Spezialsprachen bestimmter Lebensmittelkulturen, von Weinkennern bis zu Schokoladenfreunden. Die Linguistin @mrs_heyd hat mich vor einer Weile auf das “Mouthfeel Wheel” hingewiesen, denn es gibt zu verschiedenen Verkostungsbereichen unterschiedliche Rädergrafiken mit Kategorisierungen und einem ganz eigenen Spezialwortschatz.
3.
In der letzten Woche habe ich in Sianne Ngais Our Aesthetic Categories: Zany, Cute, Interesting aus dem Jahr 2012 gelesen und fand interessant, wie sie drei sehr allgegenwärtige ästhetische Kategorien verwendet, um von dort ausgehend zu schauen, was diese vielfach verwendeten Kategorien über unsere Gesellschaft und ihr Verhältnis zur Kunst bzw. ästhetischen Erfahrungen im weiteren Sinne aussagen. Die von Ngai analysierte Ambivalenz der Kategorie “cute” wird in dieser Rezension gut zusammengefasst:
“Ngai positions cuteness as a particular kind of affective response to a lack of agency — in order to judge something cute you first have to feel your own dominance in relation to it. This dominance may take the form of a desire to protect the cute object, as a parent might, or, more darkly, the desire to exert power by hurting or destroying it. These conflicting drives combine to produce an aesthetic category with strong ties to the childish, the domestic, the sexual, and historical ideas about feminine weakness.”
(Rebecca Ariel Porte: The Zany, the Cute, and the Interesting: On Ngai’s “Our Aesthetic Categories” In: LARB 14.10.2012)
An Ngais Konzept von “cute” musste ich denken, als ich diesen AITA-Beitrag aus Reddits beliebtem Subreddit “Am I the Asshole” gelesen habe. In dem Subreddit können die Nutzenden soziale Konflikte präsentieren und sich Rückmeldungen abholen, ob sie in einer sozialen Situation das Arschloch waren oder eben nicht. In dem Post erzählt ein Mann von der großen Leidenschaft seiner Freundin Faltsterne aus Papier zu basteln und damit ihren Wohnraum zu dekorieren. Worauf er mit dem Bedürfnis reagiert, diese niedlichen Sterne genüsslich zu zerdrücken. Seine Freundin ist über die ruinierten Sterne sehr traurig und versucht herauszufinden, wer ihre Bastelarbeiten zerstört, woraufhin der Freund die Schuld von sich weist, aber dennoch nicht mit seinem Vandalismus aufhört. Schließlich füllt seine Freundin die Papiersterne mit Glitzer und als er wieder einen zerdrückt, ertappt sie ihn auf frischer Tat und beendet die Beziehung. Das Verdikt im Forum ist eindeutig: Er ist das Arschloch. Regelmäßig handeln AITA-Posts von Gewaltdynamiken in heterosexuellen Beziehungen, bei denen der männliche Partner liebgewonnene Hobbies und Gegenstände seiner Partnerin abwertet, torperdiert oder zerstört. Einige dieser Erzählungen von übergriffigen Machtspielen scheinen mit der von Ngai analysierten Ambivalenz der ästhetischen Kategorie “cute” und den darin enthaltenen Machtstrukturen in Zusammenhang zu stehen, weil durch das Verhältnis der Figuren zu den niedlichen Objekten Gewaltverhältnisse erzählerisch sichtbar gemacht werden.
4.
Im Linzer Mariendom steht eine Weihnachtskrippe des deutschen Bildhauers Sebastian Osterrieder, der für seine ambitionierten Krippenanlagen bekannt wurde. Die Krippe im Linzer Dom ist von 1913 und besteht aus über 40 Figuren, die gerade restauriert und digitalisiert wurden. Nun können sie im Deep Space 8K der Ars Electronica als Projektionen besucht werden, eine virtuelle Krippe passend zur Pandemie. Informationen dazu gibt es in diesem Youtube-Video:
5.
Memes und memetische Spiele auf Twitter sind zeitgenössische Kanonisierungsformen. Es ist deswegen immer auch interessant zu schauen, welche Namen in Tweets, die sich auf Autor*innen oder Werke beziehen, regelmäßig genannt und welche blinden Flecke unbewusst reproduziert werden. In der letzten Woche gab es einige lustige Phänomene, die mit einem impliziten Kanon gespielt haben. Bei einem Meme wurden die Namen von Philosoph*innen sprachspielerisch verwendet und bei einem anderen Klassiker der Theoriegeschichte in Emojis übersetzt. Außerdem gibt es jetzt den Hashtag #AustenForZoom, der von Birte Foerster initiiert wurde und Jane Austen Zitate sammelt (oder verändert), die zu Zoom-Sitzungen passen.
6.
Dieses Mal möchte ich einen Twitter-Account (mit zugehörigen Blog) und einen ganz spezifischen Twitter-Thread empfehlen. (Der zugehörige Account ist selbstverständlich auch empfehlenswert.) Der Twitteraccount ist @Kinderfilmblog, eine sehr tolle Quelle für Rezensionen von Kinder- und Jugendfilmen und Fernsehserien. In diesem Thread von @Dr_Gretchen erzählt sie bereits seit dem Frühjahr ausgesprochen lesenswert von ihrem Projekt, mit den Kindern Klassiker der Filmgeschichte zu schauen. Der @Kinderfilmblog hat auch einen dazu passenden Beitrag gemacht.
Ich habe mich in der letzten Woche über dieses Bild mit wortgetreuen Übersetzungen der Bahnstationen Oslos ins Englische sehr amüsiert und bin gespannt auf all die Dinge, die ich in der nächsten Woche finden werde. Bis dahin wünsche ich euch eine gute Zeit mit genauso viel Schnee und Kälte, wie ihr es am liebsten mögt.
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