Über Müdigkeit, Raumanzüge und geschmolzenen Käse
Wir befinden uns aktuell wieder in einer Zwischenphase der Pandemie: Verschärfte Maßnahmen beginnen ab Montag und in den nächsten Wochen wird sich vermutlich entscheiden, wie die zweite Welle für uns verlaufen wird. Aktuell ist es also einerseits schwierig sich Online zu bewegen ohne ständig auf Corona zu stoßen und andererseits kreisen auch meine eigenen Gedanken viel um die Situation. In diesem Newsletter wird es demnach auch um die Pandemie gehen. Ich hoffe jedoch, dass ich zumindest interessante Blickwinkel auf das Thema gefunden habe. Trotzdem ist der Newsletter auch dieses Mal nicht monothematisch sondern weiterhin bunt gemischt. Es tut niemandem gut, die Gedanken obsessiv nur um eine Frage kreisen zu lassen.
1.
Erschöpfung, Frust und Müdigkeit sind die immer wieder verwendeten Worte, wenn die Stimmung am Beginn der zweiten Welle der Pandemie beschrieben werden soll. “Die zweite Welle trifft auf eine schon jetzt ermüdete Gesellschaft” schreibt der Stern, in Capital steht, dass die Welle auf eine “erschöpfte und gereizte Gesellschaft” trifft und im Tagesspiegel wird für die Beantwortung der Frage “Macht die Gesellschaft jetzt schon schlapp?” Byung-Chul Hans bereits 2010 erschienener Essay Müdigkeitsgesellschaft zitiert.
Es ist mittlerweile übrigens eine beinahe ritualisierte rhetorische Floskel, dass Tweets, in denen politische Missstände benannt werden oder Zeitgeschehen kommentiert wird, mit einem “Ich bin müde” abgeschlossen werden. Aktivismus geht an die Substanz und das Gefühl sich immer wieder in ähnlichen Schleifen zu bewegen und nur schleichende Veränderung zu sehen, kann sehr frustrierend sein. Tatsächlich zeigt eine kurze Ngram-Suche, dass das Wort “müde” in den letzten Jahren eine Hochkonjunktur erfahren hat.
2.
Die Frequenz von bestimmten Wörtern in Google Suchanfragen kann recht zuverlässige Prognosen abgeben oder retrospektiv wichtige Ereignisse eines Jahres abbilden. Aufgrund von Suchanfragen zu Krankheitssymptomen kann man beispielsweise nachvollziehen, wie sich Grippewellen ausbreiten, eine Datenanalyse, die (bis zur Einstellung 2015) von Google Flu Trends durchgeführt wurde. Auch die Frequenz von Suchbegriffen, wie “Geschmacksverlust”, die mit Corona in engem Zusammenhang stehen, steht wahrscheinlich in einem Verhältnis zur Zahl der Neuansteckungen.
Ein weit verbreiteter Tweet vom 28. Oktober vergleicht die Frequenz der Suchanfrage “loss of taste” mit der Neuansteckungskurve und die Ähnlichkeit der beiden Kurven ist erstaunlich (übrigens auch für den deutschen Suchbegriff “Geschmacksverlust”).
3.
“Mukbang” ist ein Videotrend, der in Südkorea gestartet ist und binnen weniger Jahre global erfolgreich wurde. Die Videos, in denen Menschen sich bei der Essenszubereitung und beim Essen filmen, sind aus vielen verschiedenen Gründen populär (dazu gibt es bereits eine längere Untersuchung hier, und Artikel hier und hier).
Letzte Woche ging ein Mukbang-Video als lange Version auf Youtube und als kürzerer Clip auf Twitter viral, in dem ein junger Mann, der beliebte Youtuber Tasty Hoon, versucht Käse im Schokobrunnen zu schmelzen. Da der Käse zu zäh ist, gerät der Schokobrunnen außer Kontrolle und der Käse fliegt in langen Fäden durch die Gegend. Die Vielfalt an Emotionen des Youtubers machen die Aufnahme wirklich besonders, in der langen Version reagiert er überrascht, erstaunt, lachend und isst schließlich resigniert ein Stück Huhn mit einem Stück des geschmolzenen Käses. Der fliegende Käse und die Reaktion des Youtubers lassen sich als Metapher für vieles deuten, von persönlichen Krisen bis zu den Erfahrungen in diesem Jahr.
4.
Auf TikTok zeigt die Firma Vyzr den “BioVYZR 1.0 - Personal Air Purifying Shield” eine Art Oberkörperschutzmaske gegen Aerosolübertragung und das Video wird mehrere Millionen Mal angeschaut. Vielleicht sorgte die dystopische Vorstellung von Menschenmengen in futuristisch aussehenden Schutzmasken dafür, dass sich das Video weit verbreitet. Andere amüsieren sich über die Ähnlichkeit der Masken zu den Figuren im Computerspiel Fall Guys: Ultimate Knockout.
Ein weiterer Tweet aus dieser Woche zeigt Aufnahmen von der Entfernung gefährlicher Hornissen, bei denen die Schutzanzüge aussehen wie Raumanzüge.
Warum sehen Ganzkörperanzüge eigentlich immer sofort futuristisch oder dystopisch aus? Vielleicht liegt es an der Nähe zu Raumanzügen oder es hat damit zu tun, dass in SciFi-Erzählungen so oft Kleidung getragen wird, die an Uniformen angelehnt ist? Ich warte auf jeden Fall immer noch darauf, dass die Zukunftsvision von Pierre Cardins 1964 vorgestellter Cosmocorps-Kollektion eingelöst wird, vielleicht in Kombination mit dem BioVYZR 1.0?
5.
Kennt ihr den Cyberfeminism Index schon? Wenn nicht, dann warne ich euch hiermit explizit davor, die Seite anzuklicken. Das Festleserisiko ist groß.
6.
Am 27. Oktober teilte Kim Kardashian West anlässlich ihres 40. Geburtstages einen Thread auf Twitter, der ein Musterbeispiel für den Realitätsverlust mancher sehr reicher Menschen ist. In perfekter Marie Antoinette “sollen sie doch Kuchen essen” Manier teilte sie Bilder ihrer Geburtstagsparty auf einer Privatinsel:
“We danced, rode bikes, swam near whales, kayaked, watched a movie on the beach and so much more. I realize that for most people, this is something that is so far out of reach right now, so in moments like these, I am humbly reminded of how privileged my life is.”
Angesichts der extremen Umstände in einer globalen Pandemie, der für viele existenzbedrohenden Situation und der zahlreichen Todesfälle sind diese Tweets eine zumindest verwunderliche Entscheidung. (Und ja, ich weiß, dass das Zitat von Marie Antoinette nicht wirklich gesagt wurde.)
Wenig überraschend dauerte es nicht lange bis aus ihrem Tweet, in dem sie die Privatinsel anführt, ein Copypasta-Meme geworden war. Der Text des Originaltweets wurde kopiert und mit neuen Fotos weiterverbreitet. Die Masse der Internetuser*innen revanchierte sich so für die geschmacklosen Tweets mit der Umwandlung der Aussage in ein Meme, das die Absurdität von Kardashians Tweet nochmal deutlicher herausstellt und verspottet.
In der Geschwindigkeit der Ausbreitung des Memes zeigt sich auch der Innovationsdruck. Initial wurden vor Allem Bilder von Inseln aus Film, Fernsehen und Computerspielen gewählt. Immer wieder erschienen Tweets mit Bildern aus der Verfilmung von Lord of the Flies und Cast Away. Schnell kamen Bilder weiterer Inseln hinzu: Fantasy Island, Pirates of the Carribean, The Blue Lagoon. Das Meme bewegte sich von Inselbildern im engeren Sinne zu weiteren dystopischen Filmszenen (Jurassic Parc, Midsommar) oder Kontexten, wie Parteievents, Bildern aus der Politik oder dem selbst zum Meme gewordenen spektakulär misslungenen Fyre Festival. Die Referenzen waren so zahlreich, dass bald Meta-Artikel erscheinen, die ein Best Of der Memes versammelten. Noch am selben Abend entstand der zugehörige “Know Your Meme” Artikel.
Massenmemes differenzieren sich mit hoher Geschwindigkeit aus, weil es für die einzelnen Mitmachenden sehr rasch immer schwieriger wird eine innovative Bildkombination zu finden. Parallel zur Ausdifferenzierung entstehen auch Meta-Memes, die ironisch auf das Meme selbst oder andere Memes Bezug nehmen. Irgendwann – meist zu einem späteren Zeitpunkt – steigen auch Insitutionen und Unternehmen in sehr populäre Memes ein.
Ich habe auch letzte Woche wieder Nachrichten von einigen von euch bekommen und mich wirklich darüber gefreut. Danke! Es macht mich froh zu sehen, wie rasch dieser Newsletter interessierte Leser*innen findet und es ist ein schöner Gedanke einen kleinen Teil eures Sonntags mit euch zu teilen.
Wie immer gilt: Wenn der Newsletter im Spamfilter hängen geblieben ist, dann müsst ihr den Absender zu eurem Adressbuch hinzufügen.
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Habt eine gute Woche und passt auf euch auf!